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    [Briefkopf Wien] 10. 7. 27

    Lieber Max

    Ich habe Ihnen heute telegraphiert,1 daß ich Ihren Brief erhalten und, wie gewohnt, mit Ihren Absichten voll einverstanden bin. Ich weiß nicht, ob ich Ihren Optimismus betreffs Jones teilen soll, aber meineb Altersskepsis kehrt sich mit Recht auch gegen mein eigenes Urteil.

    Meine Frau will aus dem neuen Datum Ihres Besuches Vorteil ziehen und fragt an, ob Sie von hier direkt nach Berlin zurückfahren und ob Sie bereit sind, den kleinen Ernst H[alberstadt] bei Ihrer Abreise mitzunehmen. Er ist zwar ein dummer Bub, benimmt sich aber sehr gut und macht gar keine Beschwerden. Familie Oli verläßt uns nämlich schon am 18., will auch noch Aufenthalt in Salzburg nehmen, so daß Ihre Einwilligung die Ferien des Jungen um eine Woche verlängern würde.

    Anna macht schwere Zeiten durch. Bei den Burlinghams2 trat eine Grippeepidemie auf, die rasch und folgenlos verlief, nur Harald,3 den seine Eltern hier gelassen hatten, bekam Erscheinungen, die uns veranlaßten, Friedjung4 herauskommen zu lassen. Er stellte die Diagnose auf Enzephalitis, nahm ihn sofort mit nach Wien in ein Kinderspital, und dort ist der Junge nach kürzestem Krankheitsverlauf gestorben. Anna erlebt zum ersten Mal das Bedauern, hoffnungsvolle analytische Arbeit ohne Schuld vereitelt zu sehen. Das Kind ist noch nicht bestattet, und bereits trifft sie eine dringende Aufforderung, zu ihrer Freundin Eva Rosenfeld5 in Grundlsee zu kommen, wo sich ein anderes Unglück ereignet hat. Die 14jährige Tochter ist auf einer Bergpartie tödlich verunglückt.6 Anna ist heute früh abgereist, sehr besorgt, in welchem Zustand sie die arme Mutter finden wird. Ich stelle fest, daß sie alle diese menschlichen Aufgaben ebenso gut und gewissenhaft erfüllt wie die analytischen.

    Von Ihren Wünschen für mich scheint sich nur der Wetterwunsch zu erfüllen. Ich war gestern wieder in Wien, und P[ichler] hat mir widerwillig zugestanden, daß die Gewebe nicht mehr viel wert sind. Ich glaube wirklich, es ist nicht seine Schuld, wenn die Schwellungen und Druckstellen nicht aufhören. Auch sonst weht um mich die Luft der Altersgebrechlichkeit, und ich frage mich, ob ich die Arbeit jetzt schon aufgeben oder warten soll, bis sie mich aufgibt.7 Daran ist nicht viel Tragisches, in meinem Alter soll man nicht mehr arbeiten müssen. Wenn man nicht mehr reden kann, darf man ohne Vorwurf schweigen, und die Menschen haben nichts anderes zu fordern, als daß man ihnen mit den eigenen unausweichlichen Beschwerden nicht zur Last falle. An einem Punkt geht es dann doch nicht zusammen.

    Den [U.] übernehmen Sie wieder, wenn ich wirklich nicht weiter kann. Er geht gewiß gern nach Sizilien mit.8 In letzter Zeit hat er doch viel Einsicht erworben, und die Gefahr einer neuerlichen Psychose erscheint mir nicht groß.

    Ich grüße Sie und Mirra herzlich und wünsche Ihrer konzilianten Energie jeden möglichen Erfolg

    Ihr Freud

     

    b Korrigiert aus: mein.