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S.
[Briefkopf Wien] 27. 3. 21.
Lieber Max
Es ist Ostersonntag, ich habe am Vormittag eine lange Autofahrt in eine unserer Anstalten gemacht, um drei Fälle zu sehen. Jetzt kann ich es mir gönnen, Ihnen einmal zu schreiben.1
Ich habe ein leichtes Gewissen gegen Sie, denn die Familienfiliale, mit deren Leitung Sie sonst beschwert sind, ist gegenwärtig leer. Ich freue mich auch, daß Sie ausgeruht und erfrischt in die Berliner Tretmühle wiedergekommen sind, hoffe, daß Mirras glänzendes Aussehen sich erhält und daß Ihre Neuankömmlinge sich libidinös mit dieser Welt befreunden. Ein Abreisender wie ich ist weniger anspruchsvoll.
Die ‚Massenpsychologie‘ ist fertig, heute werde ich vielleicht einige Anmerkungen einfügen, Dienstag wird sie übergeben. Für das ‚Jenseits‘ bin ich genug gestraft worden, es ist sehr populär, bringt mir [eine] Menge von Zuschriften und Lobsprüchen ein; ich muß da etwas sehr Dummes gemacht haben.
Die Arbeitswellen schlagen mir über dem Kopf zusammen. Ich habe kein halbes Stündchen mehr frei, lehne ab, wo ich kann, aber niemand läßt sich abhalten. Es sind nur Fremde, zwei Amerikaner, zwei Engländer, zwei Schweizer, zwei Deutsche, eine Italienerin. Mein Reichtum steigt in Kronen ausgedrückt zu phantastischer Höhe an. Allerdings sind es nur Kronen.
Der Verlag arbeitet recht lebhaft; gestern habe ich das erste englische Buch, Putnams Vorträge,2 bekommen. Mit meinem Urteil über Groddeck bin ich in einsamer Minorität geblieben; nur Rank tut liebenswürdig so, als teilte er meine Schätzung; aber es gefällt mir doch (der Roman, meine ich).
Aus dem beigelegten Brief des Frankfurters geht hervor, daß die beiden noch auf Bescheid von Berlin warten.3 Es dürfte noch nichts verdorben sein, aber sie sollten Antwort bekommen. In der Affaire Liebermann konnte ich Ihren Standpunkt zwar billigen, vermißte aber – auch bei Abraham – die Vorsorge, daß der Sache kein Schaden geschehe. Man hätte ihm doch schonungsvoll die Geschäfte aus der Hand nehmen sollen, die er so schlecht versehen hat. In dem Punkt wäre ich intolerant. Navigare necesse est, vivere (auch vivum servare) non necesse.4
Hermann Bahr5 (ich weiß nicht, ob Sie den typischen Wienera Narren kennen) hat unlängst öffentlich konstatiert, daß ich der berühmteste Österreicher bin. Es hat hier großen Eindruck gemacht. Sonderbar!
Mit herzlichsten Grüßen für Sie und Mirra Ihr
Freud
a Reihenfolge der beiden letzten Worte nachträglich korrigiert.
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S.
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