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S.
[Briefkopf Wien] 29. XI. 18
Lieber Herr Doktor
Endlich Nachricht von Ihnen! Wir hatten schon in Budapest angefragt, wo Sie sich aufhalten, aber keine Auskunft bekommen; der Verkehr mit Budapest ist sehr schlecht; die letzten Expreßbriefe sind acht Tage gegangen. Meine Frau empörte sich bei dem Gedanken an die Begleitumstände Ihrer Abreise, nachdem Sie und Ihre Frau durch Jahre soviel für die Kranken geleistet. Ich finde den Zusammenhang sehr interessant, daß man seine Wohltäter ausplündern muß, weil man seinen König weggejagt hat. Genug, Sie sind jetzt gewiß zufrieden, zu Hause zu sein und dort die unberechenbaren und unwahrscheinlichen Veränderungen der deutschen Umwelt abwarten zu können. Ist Abraham auch wieder in Berlin?
Auf Ihre zahlreichen Fragen nach unserem Befinden antworte ich kurz. Mit Ihrem Abgang ist natürlich der Glanz unserer Verpflegung dahingeschwunden. Gleichzeitig ist es unmöglich geworden, von Ungarn Pakete nach Wien zu schicken. Zweimal ist es den Freunden gelungen, einem Reisenden einen gefüllten Rucksack für uns mitzugeben.
Die Einschränkungen sind hier sehr arg und im stetigen Anwachsen: Wärme, Licht, Nahrung usw. Die Praxis ist natürlich spärlich, ich arbeite noch mit einigen „Aussterbern“, werde bald bei zwei oder drei Fällen angelangt sein, bin nicht verständig genug, mich der bevorstehenden Ruhe zu freuen. Meine Bücher liegen in Teschen, kommen nicht über die neue Grenze.1 Von meinem Sohn Martin fehlt seit 25/X jede Nachricht; seine ganze Formation soll ohne Kampf in Gefangenschaft geraten sein, über sein Einzelschicksal ist nichts zu erfahren. Oli ist am 2/XI von den Ungarn (unberaubt) nach Hause geschickt worden, hat noch diesen Monat bei der deutschösterreichischen Volkswehr gedient. Ernst befindet sich in München wohl.
Alle unsere psychoanalytischen Pläne2 müssen wegen der Störung des Verkehrs mit Ungarn ruhen. Rank ist am 22/XI nach Budapest gefahren, noch nicht zurück.
Wir hoffen natürlich auf Besserung in einigen Wochen oder Monaten. Bei dem Mangel jeder Voraussicht wäre es unrecht, nicht lieber zu hoffen als zu fürchten. Daß wir so bald Volksgenossen sein werden, bezweifle ich. Vederemo!3
Mit herzlichsten Wünschen für Sie und Ihre liebe Frau
Ihr Freud
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S.
Berggasse 19
Wien 1090
Österreich
C22F5