• S.

    [Briefkopf Wien] 5. 2. 1937a

    30 Jahre, lieber Freund

    sind eine lange Zeit, auch für mich, alten Mann. Ich danke Ihnen, daß Sie mich auf dies unser Jubiläum aufmerksam gemacht haben. Genüge Ihnen die Anerkennung, daß Sie in diesem Zeitraum eine höchst rühmliche Rolle in unserer Bewegung gespielt haben und mir persönlich bei den mannigfachsten Anlässen und in verschiedenen Beziehungen so nahe gekommen sind wie wenig andere. Es gab keine Gelegenheiten, Sie den Dank greifbar fühlen zu lassen, außer daß ich Ihnen den Ring abtrat, den ich selbst Jahre lang am Finger getragen. Aber manches versteht sich, auch unausgesprochen, sozusagen von selbst.

    Von den letzten Schädigungen erholt und wieder zu mäßigem Rauchgenuß befähigt, habe ich sogar begonnen, etwas zu schreiben. Kleine Dinge zwar; ein Fragment, das sich aus der (Ihnen und A. Zweig bekannten)1 Moses-Arbeit herauslösen ließ, ist fertig geworden.2 Alles Wichtigere daran muß ja ungesagt bleiben. Ein kleiner technischer Aufsatz, der mir unter den Händen langsam wächst,3 hat die Aufgabe, mir über die vielen freien Stunden hinwegzuhelfen, die der Nachlaß meiner analytischen Praxis mir geschenkt hat. Es ist begreiflich, daß Patienten sich nicht zu einem so unzuverlässig alten Analytiker drängen. Gerne gäbe ich die Berufsarbeit überhaupt auf, aber gewohnt, für so viele andere zu sorgen, vertrage ich die Unsicherheit schwer, wie lange die Reserven reichen werden. Hoffen wir auf die rechtzeitige Hilfe des Schicksals!

    Das Erfreulichste in meiner Nähe ist Annas Arbeitslust und ungehemmte Leistung.4

    Mit dem Wunsch, daß Ihre häusliche Einsamkeit sich nicht verlängere,

    herzlich Ihr

    Freud

     

    a Erstmals Briefumschlag mit der knappen gedruckten Absenderangabe: Prof. Dr. Freud. Ebenso der nächste Freud-Brief.