-
S.
[Briefkopf Wien] 24. 2. 1928
Lieber Max
Ich habe Ihr salomonisches Urteil noch übersalomoniert, d. h. auch den Brief an Oberholzer nicht abgeschickt. Ein Brief von Saussure1, der seinen Übertritt rechtfertigen sollte, gab mir den Ausweg frei, in der Antwort alles indirekt zu sagen, was ich O. selbst nicht sagen wollte.2 Gewiß wird Saussure ihm meinen Brief zeigen.
Beiliegend zwei Briefe von Pfister,3 Erfolg Ihrer Absendung. Der an Oberholzer ist gewiß sehr versöhnlich, aber Sie wissen ja: C’est son métier, hat unser Freund H. Heine in einem ähnlichen Fall gesagt.4 Erfolg ist wohl nicht zu erwarten.
Mein Auge ist wieder gesund. Anna fährt morgen früh nach Budapest, Montag früh, wie sie Ihnen geschrieben, nach Paris.5 Ich bin froh, daß sie für eine kurze Woche aus der Mohrenwäsche6 freikommt. Eigentlich ist das kein Geschäft für ein junges Menschenkind.
Eben heute haben mich zwei Japaner aus Osaka um die Autorisation zur Übersetzung von ‚Totem und Tabu‘ ersucht. Es ist die dritte Anknüpfung mit Japan, aus den beiden ersten ist nichts geworden. Ein Dr. Caspary in Berlin hat mir brieflich ernste Vorhalte gemacht, daß ich in der ‚Illusion‘ mich über die biologische Totemtheorie von Goldberg7 hinweggesetzt. Er hat mir ein ausführliches Referat eingeschickt, aus dem ich sie kennen lernen soll. Gewiß sehr freundlich von [ihm], und gewiß bin ich ein Ignorant. Aber leider, diese biologische Theorie erscheint mir als ein schauerlicher, kaum faßbarer Unsinn. Ich kann mir nicht vorstellen, wie ein Mensch auf dergleichen kommt, denke mira, der Urheber der Theorie hat mein ‚Totem und Tabu‘ bereits gekannt und sich dann genötigt gefühlt, den Schrecklichkeiten, die ich supponiere, etwas Harmloses, großartig Wissenschaftliches, „was in des Menschen Hirn nicht paßt“,8 entgegen zu setzen.
Ich grüße Sie und Mirra herzlich
Ihr Freud
(Oscar Goldberg, ‚Die Wirklichkeit der Hebraeer‘. Berlin W 15, Verlag David, 1925)
a Andere mögliche Lesung: nur.
-
S.
Berggasse 19
Wien 1090
Österreich
Rauchstraße 4
Berlin 10787
Deutschland
C23F6