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    [Briefkopf Wien] 30. X. 25

    Lieber Max

    Meine Abwehrbemerkungen im Rundbrief haben mir eine Antwort von Abraham zugezogen, die ich Ihnen – auf Rücksendung – einschicke.1 Ich habe die Geschichte nicht direkt erlebt und bin im Urteil über sie nicht sehr sicher. Darum möchte ich noch einmal von Ihnen, der bei allem dabei war, hören, ob ich A. wirklich Unrecht tue und mich durch Sympathie mit den mir näher Wohnenden irreleiten lasse. Für einen Menschenkenner aus Instinkt habe ich mich nie gehalten und auch nach meinen Erfahrungen wenig Grund dazu gehabt. Anderseits ist es schwer, es als objektiv gelten zu lassen, daß jemand jedesmal und immer recht hat.2

    Storfer habe ich brieflich gemahnt, Ihnen zu schreiben;3 ich hoffe, era hat es nicht länger aufgeschoben. Ein unsicheres Gefühl, was er eines Tages mit dem Verlag anstellen wird, kann auch ich nicht loswerden.b Ich schätze zwar seinen uneigennützigen Eifer, der ihn auch in die Filmgeschichte getrieben hat, wie seine Tüchtigkeit und halte ihn für derzeit unersetzlich.

    Zu Anfang dieser Saison beschloß ich, den Verlag unter meine Sorgenkinder aufzunehmen, und engagierte in dieser Absicht einen sechsten Patienten (fünf decken alle meine Bedürfnisse). Das Schicksal muß von dieser großmütigen Absicht Wind bekommen haben, denn es ließ mich in der Praxis erleben, was seit vielen Jahren nicht mehr vorgekommen war. Noch im selben Monat (Oktober) erkrankte einer (A) an akuter Melancholie und mußte abbrechen, ein anderer (B) erwies sich als ganz ungeeignet und wurde sanft hinausgestellt, sein Charakterbild erfuhr dann eine unerwünschte Beleuchtung durch seinen Abschied, ohne das Honorar zu bezahlen, einen dritten (C), der als Zwangsneurotiker von Pfister gekommen ist, fürchte ich als Kandidaten der Paranoia entlassen zu müssen und habe seinen Eltern in Brooklyn bereits Warnung gegeben.4

    Ich habe also nur sichere drei, darunter meine liebe Prinzessin Marie Bonaparte (verehel. von Griechenland),5 der ich jetzt zwei Stunden gebe, die aber im Dezember nach Paris zurück muß und vielleicht durch den allgemeinsten Einspruch ihrer Familie verhindert sein wird wiederzukommen, ein ganz hervorragendes, mehr als nur zur Hälfte männliches Frauenzimmer. Da ich gegenwärtig nichts zu schreiben habe und Müßiggang für mich soviel heißt als aussichtsloser Kampf gegen die Prothese, langweile ich mich jetzt bereits bei fünf Stunden Arbeit.

    Anna ist sehr wohl und arbeitet tüchtig. Verzeihen Sie, daß ich meine Sorgen vor Ihnen ausschütte. Sie sind aber weit weg von diesem grauslichen Mitteleuropa und nehmen es hoffentlich leicht, besonders wenn Mirra, wie Sie andeuten, sich dort schön erholt.

    Ich grüße Sie herzlich Ihr

    Freud

     

    a MS: es.

    b Ab hier verändertes Schriftbild.