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[Briefkopf Wien] 22. Okt. 19
Lieber Herr Doktor
Ich habe mich sehr gefreut zu hören, daß auch Abraham, der zuletzt Befragte, Ihrer Aufnahme in das psychoanalytische Komiteea zugestimmt hat und daß Sie nun dieser kleinen, aber auserwählten Gesellschaft angehören, in deren Händen das weitere Schicksal der Psychoanalyse ruht, die bisher in ungetrübter freundschaftlicher Eintracht ihre Ziele verfolgt hat. Unser persönliches Verhältnis und das Gefühl vielfacher Verpflichtung hatten mir den Wunsch, Sie darunter zu haben, längst nahegelegt, aber erst Ihre selbständige Schöpfung einer Poliklinik in Berlin hat es mir möglich gemacht, Sie in Vorschlag zu bringen. Ich hoffe, daß es Ihnen gelingen wird, intime Beziehungen zu jenen Mitgliedern, die Ihnen noch ferner stehen, herzustellen. Bei Freund kommen Sie wohl zu spät. Das Geheimnis dieses Komitees ist, daß es mir meine drückendste Zukunftssorge abgenommen hat, so daß ich meinen Weg ruhig bis zum Ende verfolgen kann. –
Ich hoffe, daß Sie inzwischen meinen Brief vom 12.b d. M. erhalten haben. Der Ihrige vom 13. brauchte also neun Tage. Man muß sich erst daran gewöhnen, daß man so weit von einander ist.
Ernst wird Sie bereits verlassen haben, Schmideberg wohl noch bei Ihnen sein, und da Ihre Familie selbst durch die Verlobung Ihrer Schwester1 in Atem gehalten wird, dürften Sie bewegte Zeiten hinter sich haben.
Die Verlobung Martins wird zur Hochzeit am 7. Dez. führen. Die gebräuchlichen Brautzeitverstimmungen des jungen Paares werden durch Hausstandsorgen und Einrichtungsschwierigkeiten ersetzt. Er hat zwar bereits eine hoffnungsvolle Stellung und eine Wohnung, sie ist nicht arm, aber die Gründung einer neuen Familie scheint derzeit wirklich ein Wagnis zu sein.
Meine „Ernennung“ scheint das zu sein, wofür ich sie gehalten habe: ein leerer Titel, der die Stellung der Psychoanalyse an der Universität weiter nicht ändert. Sie ist übrigens noch gar nicht vollzogen. Es wurde nur der Vorschlag in der Öffentlichkeit bekannt.
Es wird Sie interessieren zu hören, daß ‚Totem‘ und die ‚Vorlesungen‘ der Erschöpfung nahe sind. Rank freut sich schon auf den Druck beider in unserem Verlag.2
Mit herzlichen Grüßen für Sie und Ihre liebe, unwiderstehliche Frau
Ihr Freud
a Freud schreibt: Komité; später auch: Comité.
b Korrigiert aus: 13.
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