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[Briefkopf Wien] 1. 1. 16.
Lieber Herr Doktor
Herzliche Glückwünsche für dies Jahr, ein Wiedersehen in Frieden darunter! Ich freue mich sehr zu hören, daß Sie in einer Ihnen zusagenden Tätigkeit stehen und dabei die Gesellschaft und Unterstützung Ihrer lieben Frau nicht entbehren.
Ihre Anfragen will ich um so lieber beantworten, als ich nichts Arges mitzuteilen habe.
Ferenczi hat mich eben verlassen, um nach Pápa zurückzugehen. Er ist Regimentsarzt geworden und wird nach Budapest versetzt, wo er wie Sie eine Nervenabteilung bekommen wird. Auch von Abraham hatte ich gerade heute Nachricht. Er war in Berlin und geht nach Allenstein zurück, wo er wiederum – überall diese erwünschte Wendung – eine psychiatrische Station übernehmen wird. Sein Vater in Bremen ist vor wenigen Wochen gestorben.
Über den Krieg etwas zu sagen, ist schwer. Es scheint jetzt eine Ruhe vor dem Sturm. Niemand weiß, was jetzt kommt, wohin es führt und wie lange es dauern kann. Es ist nicht unmöglich, daß die englische Vorhersage1 recht behält, hoffentlich nur in bezug auf die Dauer und nicht auf den Ausgang. Die Erschöpfung ist bereits recht groß. Auch in Deutschland ist man nicht mehr unbedenklich optimistisch.
Von meinen Söhnen2 ist der älteste gestern Leutnant geworden, er ist mit der großen silbernen dekoriert, wie wir uns in seinem zehntägigen Urlaub überzeugen konnten, sehr wohl und gestählt. Der jüngere ist Kadett, auch dekoriert; beide haben es eine Zeitlang bequem gehabt, sind jetzt an exponierten Stellen der italienischen Front. Mein mittlerer arbeitet unabkömmlich an einem strategisch wichtigen Tunnel in den Karpaten; er hat vor 14 Tagen seine spagnuolische3 Liebe, eine Medizinerin, geheiratet und mit sich genommen.4 Mein eigener Max in Hamburg,5 den Sie kennen, steht als Kanonier bei Arras. Meine Tochter ist mit ihrem zweijährigen Knäblein recht einsam.
Ich arbeite allerdings – an der Veröffentlichung meiner elementaren Vorlesungen bei Heller.6 Eine rechte Freudigkeit gedeiht in diesen Zeiten nicht.
Seien Sie herzlich gegrüßt, und geben Sie mir bald wieder Nachricht von Ihrem und Ihrer lieben Frau Wohlbefinden.
Ihr getreuer
Freud
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