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    [Briefkopf Wien] 23. XI. 19

    Lieber Herr Doktor

    Kauma ist die Tinte von dem einen Dankbrief trocken, sagte meine Frau anläßlich Ihrer letzten Sendung, so ....1 Es hat wirklich neben seiner betrübenden auch seine herzerfreuende Seite. Auch etwas echt Jüdisches ist dabei.

    Schmideberg habe auch ich seit seiner Rückkehr zurückgeworfen gefunden, hoffentlich nicht ins Morphin. Wer ihm jetzt den Vater ersetzt, ist leicht zu erraten. Ich merke, daß er eine geheime Sympathie für Anna nicht sehr gut verbirgt. Schade!

    Seine Nachricht, daß Abraham die Professur für Psychoanalyse haben soll, scheint mir zu schön, um glaubwürdig zu sein.2 Die Berliner Geheimräte weich geworden! Nein, ich glaube es noch nicht und lasse mich dann überraschen.

    Meine drückende Zukunftssorge kann ich Ihnen am besten genetisch vorstellen. Sie stammt aus der Zeit, da die Psychoanalyse auf meinen zwei Augen stand, und hatte zum Inhalt die Besorgnis, was das Menschengesindel daraus machen würde, wenn ich nicht mehr lebte. 1913, als wir eine Probe von diesen Möglichkeiten bekamen, hat sich das Komitee gebildet und die Aufgabe der Fortführung im richtigen Sinne auf sich genommen. Seitdem lebe ich leichter, sorgloser um die Dauer des Lebens.

    Die Gegenwart steht unter dem Zeichen der nahen Entscheidung bei Freund. Morgen soll die Operation sein, die Aufklärung gibt, was an der Verlegung des einen Ureters3 schuld ist. Er leidet an schweren Nierenkoliken. Ich werde Ihnen über den Ausgang bald berichten, der, fürchte ich, der ungünstigste sein wird.

    Mit herzlichen Grüßen für Sie und Ihre liebe Frau, die wir jetzt also auch im Bild besitzen

    Ihr Freud

     

    a Vor „Kaum“ Anführungsstriche gestrichen?