-
S.
[Briefkopf Wien] 19. XI. 19
Lieber Herr Doktor
Ich habe mich sehr gefreut zu hören, daß Sie sich brieflich mit den anderen Mitgliedern des Komitees in Beziehung gesetzt haben.1 Einen werden Sie im Dezember sehen, Rank ist heute nach Holland, vielleicht sogar nach England gefahren und wird in vier Wochen über Berlin und Leipzig zurückkommen.2 Der direkte Anlaß seiner Reise ist ein geschäftlicher Auftrag von Freund, der aber auch für den Verlag wichtig werden kann. Mit ihm fuhren Pfister und unser englisches Mitglied Dr. Forsyth.3 Ersterer war mit einem Kinderzug4 hier und arbeitete sehr viel an einer Hilfsaktion für das arme Wien. Er machte einen ausgezeichneten Eindruck, hängt inniger an der Analyse als je, war sehr viel bei uns und hatte einen schweren Rucksack voll guter Sachen aus der Schweiz mitgebracht. Der Engländer hatte sieben Wochen bei mir an seiner Analyse gearbeitet, ein vornehmer, etwas scheuer, verhaltener Mensch, Primarius an Guy’s Hospital und Lecturer. Er hatte Jones gerade abgelöst und Ferenczi noch angetroffen. Es war also eine Zeit von sehr lebhafter psychoanalytischer Geselligkeit. Heute Stille und Katzenjammer.
Anna ist in den Verlag für die englische Korrespondenz eingetreten, arbeitet bereits tüchtig. Unsere Familiennachrichten haben Sie gewiß durch meine Schwägerin. Ein Tanzbär ist seit Badersee nicht wieder aufgetaucht.5
Mit Freund steht es sonderbar. Die hiesigen Ärzte wollten eine Metastase absolut nicht finden. Eines Tages fand ich bei einem Schmerzanfall eine – von anderer Seite bereits vermutete – Wanderniere. Großer Jubel, das war offenbar der in Budapest getastete Tumor. Später entdeckte man – Hämaturie,6 und nun ist es doch wieder zweifelhaft, ob nicht in dieser Niere die Metastase sitzt. Mit der Internen7 lasse ich mich so bald nicht wieder ein.
Von Amerika erhalte ich Zeitungsausschnitte und Bücher reichlich. Ein Mr. Viereck,8 Journalist, Politiker und Dichter, ein ganz ansehnlicher Kerl, hat mir sogar „food“ angetragen. Ich habe angenommen mit der Bemerkung, daß Fleischkost meine Produktionsfähigkeit gewiß wieder heben wird. Der Verkehr mit Amerika ist aber nicht sehr rasch oder sicher. Der Peruaner9 hat wieder eine psychoanalytische Abhandlung geschickt, der kleine ‚Traum‘10 ist in italienischer Übersetzung erschienen.
Herzliche Grüße an Sie und Ihre liebe wilde Frau
Ihr Freud
-
S.
Berggasse 19
Wien 1090
Österreich
Güntzelstraße 2
Berlin 10717
Deutschland
C22F6