[Briefkopf Wien] 17. 1. 15.

Lieber Herr Doktor

Ich beeile mich, den verlorenen Brief zu ersetzen. Da ich nicht auseinanderhalten kann, was ich damals, vorher und nachher geschrieben, bin ich in Gefahr, die spärlichen Neuheiten dieser öden Zeit unnütz zu wiederholen.

Also: Alles ruht oder begibt sich zur Ruhe. Der Verein¹ arbeitet alle zwei oder drei Wochen, das ‚Jahrbuch‘ wird 1915 nicht erscheinen, die beiden anderen Zeitschriften sind im Ausklingen;² die ‚Internationale‘ hat soeben das letzte Heft des II. Jahrgangs gebracht, die ‚Imago‘ mit großer Verspätung das vorletzte. Die weiteren Schicksale sind noch unbestimmt.

Ferenczi ist beim 7. Honvedhusaren-Regiment in Pápa, Rank und Sachs sind frei, Abraham schreibt, daß er erwartet, von Berlin wegzukommen.³ Die meisten der Wiener Mitglieder arbeiten in Wiener Spitälern. Dr. Liebermann⁴ ist in Schirmeck i. Elsaß, Dr. K. Landauer bei der Armee vor Warschau. Jones⁵ schreibt sehr eifrig über Dr. van Emden⁶ im Haag. Die Spielrein⁷ ist in Zürich, von wo ich sonst nur durch Pfister⁸ gelegentlich höre.

Mein ältester Sohn⁹ ist noch in Salzburg, soll in den nächsten Tagen ins Feld abrücken. Ich erwarte, daß er Wien passieren wird. Mein Jüngster macht die Freiwilligenschule in Klagenfurt. Mein Schwiegersohn in Hamburg ist eingestellt worden und sieht seiner Abrichtung entgegen.

Ich habe zwei oder drei Stunden täglich zu tun, bin zeitweilig produktiv, aber öfter ohne Lust, etwas Ernstes zu arbeiten. Unsere Stimmung ist nicht so brillant wie in Deutschland, die Zukunft erscheint uns unberechenbar, doch äußert die deutsche Stärke und Zuversicht ihren Einfluß.

Es tut mir leid, daß Sie keinen Urlaub bekommen, um den versäumten Karlsbader Besuch hier nachzuholen. Vielleicht läßt es sich doch machen. Erhalten Sie sich weiter gesund, und lassen Sie oft von sich hören.

Mit herzlichen Wünschen

Ihr Freud

P.S. Eine italienische Übersetzung der ‚Psychoanalyse‘ ist erschienen (Bianchini, Neapel) und eine schwedische des ‚Alltagslebens‘ angekündigt.¹⁰