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[Briefkopf Wien] 23. 1. 21.
Lieber Max
Am heutigen Sonntag (er fällt zwischen die zwei schmerzlichen Jahrestage 1920)1 kann ich Ihnen für den langen Brief danken, mit dem Sie Ihr längeres Schweigen unterbrochen haben.
Ich sehe es bestätigt, wie verständig es war, das Berliner Arbeitsfieber durch diese Meraner Ruhepause zu unterbrechen, bes[onders] wenn Mirra noch so schwere Eröffnungen bevorstehen, für die Sie gewiß den passendsten Zeitpunkt vorbereiten. Ich hörte von Ihren weiteren Reiseplänen nach Paris und London, aber nicht durch Sie.
Auf Ihre Anwesenheit in Wien im Mai freue ich mich sehr (nehmen Sie den 6. anstatt des 5., der durch Napoleons Tod bekannt ist), aber es ist mir auch sehr recht, daß sie nicht mit der Komiteesitzung zusammenfällt. Für letztere wollen wir, da Sie alle so liebenswürdig sind, auf meine Bedürfnisse Rücksicht zu nehmen, die letzte Septemberwoche festhalten und die Örtlichkeit noch unbestimmt lassen. Ich bin wirklich kein Arbeitsfanatiker mehr und kann es doch nicht anders als bisher einrichten. Die Sommerpläne sind noch ganz unbestimmt. Wahrscheinlich gehe ich wieder nacha Gastein, wo sich so schön arbeiten läßt, und dann verbringen wir den Rest der Ferien irgendwo vereint, vielleicht in Aussee. Der Aufenthalt im Ausland zu drei und vier Personen bleibt ja noch immer schwer möglich. Natürlich möchte ich im Herbst nach Hamburg, wohin meine Frau auch Ende Februar fahren wird.
Anna hat es nach eigenem Geständnis jetzt zu Hause sehr behaglich in ihren zwei Zimmern. Sie arbeitet an zwei größeren Übersetzungen, Jones, ‚Behandlung der Neurosen‘, und Varendonck,2 hilft sonst bei Rank aus, der sich in einem Provisorium befindet, da er ohne Assistenz ist. Sie wissen, ich habe Reik, der nicht guttat, aus dem Verlag entlassen und ihn als Literaturdiktator selbständig gemacht.3 (Gehalt 2000 K direkt vom Fond.) Wir haben noch keinen Ersatz engagiert, stehen auch nicht vor viel Auswahl und sind durch die Unsicherheit betreffs Kola behindert. Die Verhandlungen mit ihm werden jetzt endlich beginnen, wo sein Verlag konstituiert ist; wir sind entschlossen, sie nicht über vier Wochen hinauszuziehen. Eigentlich möchte ich, allen Schwierigkeiten zum Trotz, lieber, daß sie sich zerschlagen. Aber die Verhältnisse sind so schwierig und unsicher, daß man eine solche Sicherung nicht ohne starke Begründung von sich weisen darf. Aus bester Quelle, von der englischen Gesandtschaft,4 weiß ich, daß die Regierung vor der für den 20. angesagten Revolution5 solche Angst gehabt hat, daß sie ernstlich daran dachte, ihren Sitz von Wien wegzuverlegen, während der Gesandte sich Sorgen machte, wie er seine Kinder in Sicherheit bringen solle.
Ich habe in diesem Monat zuerst6 von Ihrem Haus in Leipzig eine Summe kommen lassen, so daß dort die Million bereits angebrochen ist. (Richtiger: sie wurde es durch die Subvention für die zum Kongreß Reisenden schon vorher.) Eine zweite Million, fast unversehrt, verwahre ich in guten Valuten aus dem ungarischen Fond bei mir. Ich wüßte gern, ob Ihr Fond in Kronen oder in Dollars erliegt, im letzteren Fall würdeb er sich sehr erhöht haben. Meine Absicht ist gewiß nicht, das Geld des Fonds zu thesaurieren, eine gewisse Vorsicht ist als Garantie für den Fortbestand der Zeitschriften bei der unausgesetzten Steigerung der Produktionskosten notwendig. Sonst bin ich aber nur durch das gegenwärtige Schwanken zwischen Kola und Selbständigkeit von Ausgaben zurückgehalten worden. Unabhängig vom Abschluß der Bilanz, die günstig zu werden verspricht, mußte ich Rank auf 10.000 K7 monatlich erhöhen. Er opfert sich dabei doch auf,c da er sich nur erhalten kann, wenn er daneben 3-4 Analysenstunden gibt. Ich getraue mich nicht, ihm diese abzukaufen, denn er sagt mit Recht, daß er außerordentliche Anregung aus dieser Berührung mit der Mutter Erde der Psychoanalyse bezieht.8
Wenn er den Verlag an Kola (gegen Mark) verhandelt, werde ich die Summe an Ihre Firma in Leipzig überweisen lassen.
‚Jenseits‘ und sogar ‚Massenpsychologie‘ sind mir gegenwärtig fernliegend. Ende dieses Monats verlassen mich aber vier von meinen acht Patienten, und dann werde ich bis 1. März Zeit haben, mich der Vollendung der ‚Massenpsychologie‘ zu widmen. Vorläufig hat mich die Gelegenheit gefesselt, einen tiefen Blick in den Mechanismus eines wirklich psychotischen Falles von Eifersuchtswahn zu tun.9 Auch die Vorgeschichte derd Ödipuskonstellation hat sich mir abgerundet,10 und ich gedenke, Ihnen allen in der Komiteesitzung davon zu erzählen, die sich zu einem intimen Kongreß auswachsen soll.
Ich amüsiere mich sehr über das allgemeine „Schütteln des Kopfes“, das Groddecks Roman bei den Analytikern, selbst in unserem engeren Kreise, erregt.11 Bei den verheuchelten Schweizern oder beim Anagogen Silberer12 nimmt es mich nicht wunder, aber sonst kann ich vom Urteil nicht abgehen, daß es ein Leckerbissen ist, freilich Kaviar fürs Volk, das Werk eines Rabelais ebenbürtigen Kopfes.
Ich schließe diesen lang gewordenen Brief mit herzlichen Wünschen für Ihren und Mirras Aufenthalt und weitere Reisepläne und mit der Bitte um Nachrichten.
Ihr getreuer
Freud
a Gestrichen: Mer; danach: (!).
b Korrigiert für: sie.
c MS: Punkt statt Komma.
d Korrigiert aus: des.
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