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S.
[Briefkopf Wien] 1. 4. 25
Lieber Max
Ich habe Ihnen lange nicht geschrieben, und da meine Sekretärin1 heute in meiner Vertretung bei der Feier der neuen Universität (Jerusalem)2 ist, benütze ich die Vereinsamung, um mit Ihnen zu plaudern.
Ich habe ermüdende Zeiten hinter mir, unausgesetzte Arbeit zur Verbesserung meiner Prothese (wieviel lieber verschriebe ich mich: Hypothese), das entsprechende „Sanierungselend“3, die Aufzehrung aller frei beweglichen Energie durch Organbesetzung, wie sie von den unglaublich reichhaltigen Parästhesien gefordert wird. Heute sind wir so weit, daß die groben Beschwerden beseitigt sind, die feineren reichen dann noch hin, mich mißmutig zu machen. Von drei zärtlichen Frauenzimmern umringt und beobachtet, habe ich nicht viel Freiheit zu jammern und gute Gelegenheit, mich in der notwendigen Selbstbeherrschung zu üben. Aber man wird müde dabei.
Es geht sonst nichts Besonderes vor. Ich habe Abraham für Ostern abgesagt, werde aber das Ideal der vollen Feiertagsruhe darum doch nicht erreichen. Es tut mir leid zu denken, daß A. sich kränken wird, wenn ich Ihren Besuch für Mai nicht abwehre. Aber Sie strengen mich wirklich nicht an. Vielleicht finden Sie auch noch einen Vorwand aus Redaktions- oder Verlagsinteressen, um es A. zu erleichtern.
Gearbeitet habe ich nichts. Alle Fäden, die ich spinnen will, reißen mir kurz ab. Vielleicht muß ich zunächst die halb mechanische Arbeit an der ‚Traumdeutung‘4 erledigen.
Dr. Friedemann erwies sich als ein ziemlich indifferenter Kollege, das heute angelangte Buch von Dr. Engelmann5 gibt mir keinen Anlaß zur Revision meiner Kritik.
Über Lou-Anna habe ich gerne gehört, daß Sie sich beide wohl befinden. Ich grüße Sie beide herzlich, Ihr
Freud
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S.
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