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S.
[Briefkopf Wien] 3. 4. 24a
Lieber Max
Mein Grippeschnupfen im vorigen Monat hatte mich so heruntergebracht, daß ich – zum ersten Mal seit 38 Jahren – die Arbeit unterbrochen habe, um über Samstag und Sonntag wegzugehen. Der kurze Aufenthalt im Kurhaus Semmering1 hat mir sehr wohl getan, mich geradezu wieder existenzfähig gemacht. Ich werde ihn am Ende dieser Woche, also morgen, wiederholen.
Anderseits ist mir die Notwendigkeit von Ruhe und Erholung, wenn ich überhaupt bis Mitte Juli bei der Arbeit bleiben will, so überzeugend dargetan worden, daß ich beschlossen habe, Ostern nicht zum Kongreß zu gehen, sondern wieder auf den Berg und in das gute Haus. Der Entschluß ist mir nicht leicht geworden, steht aber jetzt fest. Ich weiß, man würde mir versichern,b alles zu meiner Schonung zu tun, aber das hat zum Teil keinen Sinn, zum anderen Teil ist es undurchführbar. Es bliebe eine große Plage, der ich nicht mehr gewachsen bin.
Ein Nebengewinn dieser Abänderung ist es, daß ich den garstigen Diskussionen und persönlichen Auseinandersetzungen entgehe, die für Salzburg angesagt sind. Vielleicht hat es auch keine schlechte Wirkung, wenn die Leutchen merken, daß sie ohne mich miteinander fertig werden müssen.
Ich höre von Anna, daß Sie Ihre Reisedispositionen abgeändert, teilweise noch unbestimmt gelassen haben. Wir (ich, Frau und Tochter) verlassen Wien am Donnerstag, 17. d. M.2
Mit herzlichen Grüßen für Sie und Mirra
Ihr Freud
a Der zugehörige Briefumschlag adressiert an: Frl. Minna Bernays, für Dr. Max Eitingon, Pension Hohenwart, Merano, Italien.
b Im MS folgt: daß [sc. alles ... getan werde].
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S.
Berggasse 19
Wien 1090
Austria
C22F13