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S.
[Briefkopf Wien] 19. Mai 22
Lieber Max
Lampl war eben hier und hat mir –
21/51 Ihren Brief und die kleinen Geschenke gebracht, die mir immer noch eine leichtere Freude sind als Ihre großen. Die Marken2 sind ganz reizend, die Zigarren geben sich mit Unrecht nach Qualität und Menge als Ersatz für die aus, die Sie bei mir geraucht haben, und den Flournoy3 möchte ich, wenn Sie ihn nicht vorher brauchen, nach Gastein–Obersalzberg mitnehmen und Ihnen in Berlin wieder in die Bibliothek stellen.
Ich habe auch sonst durch seinen Besuch gewonnen, freilich nicht ohne einen hohen Preis dafür zu zahlen. Ich habe seiner Erzählung Glauben geschenkt, ihn rehabilitiert und mich dankbar gefühlt, daß er mich unter dem Vorwand der Schonung in der Irre verbleiben ließ.4 Bei Lux habe ich die Wahl, starke psychopathische Züge oder einen schlimmen Charakter anzunehmen, und entscheide mich für das erstere. Es ist traurig, daß die Frauen meistenteils so wenig taugen. Entweder verstehen sie den Mann nicht zu lieben oder ihn mit ihrer Liebe nicht glücklich zu machen. Mein armer Junge tut mir denn auch ordentlich leid, wenngleich gegenwärtig alles ordentlich und behaglich zu sein scheint. Aber so etwas kehrt irgend einmal in derselben oder in veränderter Form wieder.
Meine Schwägerin muß bereits in Abbazia5 angekommen sein. In sechs Wochen – eine kurze Zeit – hoffe ich auf dem Weg nach Gastein zu sein. Mein Arbeitseifer hat stark nachgelassen, ich denke in vollem Ernst daran, die Anzahl der Arbeitsstunden im Herbst auf sieben herabzusetzen und, wo es angeht, die Honorare zu steigern.
Ganz besonderen Dank empfand ich für Ihr Urteil über den kleinen Knirps in Hamburg, den ich besonders lieb habe. Ich kann ihn aber erst im September sehen. Martha6 will den Juli mit beiden Kindern zubringen.
Zu den Worten in Ihrem Brief über Ihren eigenen Fall denke ich mir, das ist doch – wenn man überhaupt normal ist – der Segen der Jugend, die nichts Schweres anzuerkennen braucht. Das ist aber sehr beneidenswert.
Anna ist von Göttingen mit einem Plan zum Probevortrag in der Gesellschaft gekommen, ich werde ihn noch heute abends zu beeinflussen suchen.7 Am Mittwoch 31. d. M. werde ich mich dann fühlen wie M. Junius Brutus der Ältere, als er über die eigenen Söhne zu richten hatte.8 Sie tut da vielleicht einen entscheidenden Schritt.
Mit herzlichsten Grüßen für Sie und Mirra
Ihr Freud
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S.
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