S.
[Briefkopf Wien] 27. Sept. 10.
Lieber Herr Doktor
Es hat mich sehr geärgert, daß wir in Rom so aneinander vorbeigegangen sind. Im Hôtel Milano erzählte man mir, ein Herr mit einer Dame hätte nach mir gefragt. Bald darauf bekam ich Ihren Brief. Waren Sie der Herr, so sind Sie also nicht allein, was Sie überhaupt selten sind.1 Oder ist es diesmal mehr und etwas Definitives?a
Auch ich betrachtete das Ausbleiben einer Reaktion auf den ‚Leonardo‘ als Anzeichen eines nahenden Besuches und nehme nun zur Kenntnis, daß er bloß aufgeschoben ist.
Mein Aufenthalt in Sizilien war in der ersten Hälfte sehr schön, in der zweiten durch Scirocco gestört. Am Ende bin ich vorzeitig zurück, als ich von der Cholera in Neapel hörte, um nicht zu Umwegen genötigt zu sein oder in Quarantanien2 zurückgehalten zu werden. Es scheint, daß meine Vorsicht nicht unberechtigt war.
Ich wünsche Ihnen die schönsten Eindrücke und Stimmungen in dem merkwürdigen Mutterland der Religionen und ein sanftes Übergehen des Provisoriums ins kontinuierliche Leben.
Ihr herzlich ergebener
Freud
a MS: Punkt statt Fragezeichen.
Berggasse 19
Wien 1090
Austria
Hindersinstrasse 14
Eberswalde 16225
Germany
C22F2