• S.

    [Briefkopf Wien] 9. 5. 19a

    Liebe Freunde

    Es ist rührend, daß Sie noch immer nicht aufhören, zu Geburtstagen zu gratulieren und auf bessere Zeiten zu hoffen!1 Ich danke Ihnen und werde ein Beispiel an Ihnen nehmen. Unterdes – ich kann es nicht leugnen – drängt sich in meinem heiteren Pessimismus, der mir immer eigen war, gelegentlich das letztere Element deutlich vor. Meine Sorgen organisieren sich zu Systemen, die nicht leicht zu überschauen sind, und neue Instanzen legen sich dazu an. Am leichtesten kann man von dem Bedauern über den Verzicht auf einen Sommer sprechen; heuer gibt es auch kein Ungarn mehr für uns. Die nächsten Monate werden nach meiner Erwartung voll von dramatischer Bewegtheit sein. Wir sind aber nicht Zuschauer, nicht Akteure, eigentlich auch nicht Chor, sondern bloß Opfer.

    Kopf und Verlag arbeiten weiter, aber unter ganz besonderen Erschwerungen.

    Vom Gefangenen keine üblen Nachrichten, Ernst hat während der Unruhen in M[ünchen]2 sein Ing[enieurs-]Diplom erworben.

    Geben Sie bald Nachricht, und seien Sie herzlich bedankt

    von Ihrem

    Freud

    aet. 63.3

     

    a Der zugehörige Briefumschlag adressiert an: Herrn u. Frau Dr. Max Eitingon.