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S.
[Briefkopf Wien] 13. XI. 22
Lieber Max
Wenn ich Ihnen nicht sofort antworte, verzögert es sich vielleicht sehr lange, und ihre freundlichen Briefe aus dem Urlaub verdienen Antwort.
Ich bedaure, Sie letzthin unter dem Einfluß aktueller Schwierigkeiten besorgt gemacht zu haben. Es ist nichts Brennendes in der Familie, das ungelöste Problem meiner lebensunfähigen, verwaisten Schwester1 und ähnliches an Quälereien. Anna, nach der Sie besonders fragen, befindet sich sehr wohl. Dieser Tage wäre sie beinahe nach Rom gefahren mit der Frau meines Freundes Dr. Rie,2 aber alle Nebenumstände waren ungünstig, so daß es sich zerschlug. Schwarzer Punkt am Horizont, der auch Sie betreffen muß, ist die Krise des Verlags, der nach Berlin übersiedeln muß.3 Rank hat versprochen, Ihnen darüber zu schreiben. Die Verhandlungen über die Press werden sich dadurch, wie der nächste Rundbrief ausführt, wesentlich vereinfachen.
Das französische ‚Alltagsleben‘ habe ich noch nicht erhalten. Vielleicht kommt es gerade morgen. Weitere Exemplare brauche ich nicht. Den ‚Mercure de France‘4 hat Rank mir zugeschickt. Was ich an Ärger bei den Deutschen geschluckt, werde ich gewiß bei den anderen Nationen nicht regurgitieren. Interessanter war mir ein vorstehender Aufsatz über Bacon-Shakespeare.5 Dies Thema und das Okkulte bringen mich immer etwas aus der Fassung. Meine Neigung geht durchaus auf die Verneinung. Ich glaube an ein paranoides Wahnsystem, ob bei den Autoren oder bei Bacon selbst?
Gleichzeitig kündigte der Spanier einen zweiten Band für diesen Monat an. Ich liebe ihn, er ist der bravste von allen.6
Die Frau Dr. Lowtzky kann ich wohl noch vor Weihnachten kommen lassen, es sei denn, daß Sie sie wirklich selbst behalten wollen. Ich erwarte bis zu dem Termin drei Abgänge, vom ersten (Frink) habe ich nichts, da ich derzeit jedem nur fünf Stunden gebe und versprochen habe, sie aufzufüllen, der zweite wird nicht ersetzt, da ich mit der Einschränkung auf acht Stunden und Leute Ernst machen will. Aber auch die dritte Apertur, in die L. eintreten kann, dürfte sich noch vor Jahresende ereignen.
Ein Hofrat von der ehemaligen Kaiserlichen Fideikommiß-Bibliothek hat mir das Manuskript einer Teufelsverschreibung aus dem Ende des 17. Jahrhunderts gebracht, das mich doch zu einer kleinen Arbeit bewegen wird. Eine merkwürdige psychologische Wahrheit wird darin in ergreifender Naivität verraten.7
Ich hoffe, daß Sie und Mirra auch London genießen werden, und wünsche Ihnen beiden das ruhigste Leben und die schönsten Abenteuer. Aber Paris und London sind doch nur Vorlust gegen – Sizilien!
Herzlich
Ihr Freud
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S.
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Wien 1090
Austria
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