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S.
[Briefkopf Wien] 25. 3. 23
Lieber Max
Ihr versprochenes Bild habe ich noch nicht erhalten, wahrscheinlich infolge unseres (heute beendigten) Poststreiks.
Anna ist gestern nach Göttingen bis über die Ostertage abgereist. Ich hoffe, daß ihre Rückkehr nicht durch den zu erwartenden Eisenbahnstreik verzögert werden wird.
Über die Frage, an welche Stelle der Ausbildung die Selbstanalyse1 gerückt werden soll, habe ich kürzlich mit Rank debattiert. Wir haben uns in folgenden Erwägungen getroffen: Wenn ein theoretischer Unterricht, der doch 5-6 Monate dauern muß, vorausgeschickt wird, nimmt dies der Kandidat gern als Zeichen, daß auf die intellektuelle Unterweisung der Hauptakzent fällt, bringt der unbeliebten Autoanalyse weniger Interesse entgegen und bleibt, wie immer diese Analyse ausfällt, überzeugt, daß er Psychoanalyse gelernt hat. Was ja nicht erwünscht ist. Auch beraubt man sich durch diese Anordnung der Möglichkeit, das Material zu sieben. Wenn einer die Kurse durchgemacht hat und stellt sich dann in der Selbstanalyse als ein hilfloser Neurotiker oder zweifelhafter Charakter heraus, wird es schwer halten, ihn als unbrauchbar wegzuschicken und seine Frage zu beantworten: Wozu haben Sie mich ein halbes Jahr auf das theoretische Studium, das mir jetzt nichts nützt, verwenden lassen? Da sich erfahrungs- und naturgemäß so viele pathologische Menschen zur Ausübung der Psychoanalyse drängen, wird jeder Akt, der die Auswahl erschwert, zu vermeiden sein.
Wir machen es hier so, daß wir mit der Eigenanalyse beginnen und dann, wenn sie gut fortschreitet und keine Abschreckung ergibt, in ihrem Verlaufe gestatten, Kurse zu hören und Bücher zu lesen. Einige Male haben wir schon den Erfolg gehabt, daß der Analysand seine Maske fallen ließ, seine Ansprüche auf eine analytische Zukunft aufgab und sich als simpler Patient bekannte.
Ihrem Gesichtspunkt, daß der Kandidat ein Recht hat zu erfahren, was man von ihm will, könnte man Rechnung tragen, indem man eine kurze, etwa eine Woche dauernde Orientierung durch Vortrag der Eigenanalyse vorausschickt. Übrigens sind die wenigsten, die sich zur Ausbildung melden, einer solchen Einführung bedürftig. Meist bringen sie unerwünscht viel eigene Vorbereitung mit.
Wir verkennen natürlich nicht, daß die wahllose Zulassung die Frequenz der Unterrichtskurse sehr steigern würde. Sie ist aber nicht im Interesse der Ausbildung. Vielleicht könnte man theoretischen Unterricht und Unterricht zum Zweck der Ausbildung voneinander sondern.
Für Ihre Zusage an Frl. Dr. Annie Rosenberg herzlichen Dank!
Mit vielen innigen Grüßen an Sie und Mirra
Ihr Freud
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S.
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