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S.
[Briefkopf Wien] 31. X. 20
Lieber Max
Ihr Vater war also bei mir, sehr frisch und wohlaussehend, wortkarg und ungeduldig wie wahrscheinlich immer. Ich habe meinen Neid wegen seiner schönen Reise nicht zurückgehalten.
Infolge der lebhaften offiziellen Korrespondenz durch das Zirkular1 können wir uns jetzt aufa intime Mitteilungen beschränken.
Olis Zustand ist mir wohlb bekannt und hat mir oft Sorge gemacht. Ich sprach nicht darüber, weil ich meine, daß Sie in Ihrer neuen Funktion als Familienmitglied und Filialleiter2 ohnehin genug in Anspruch genommen sind. Er braucht aktive Therapie3 nach zwei Richtungen. Für die eine4 haben Sie selbst bereits gesorgt, aber wie kann man ihm, da er sich so ungeschickt anstellt, das andere, das Weib, verschaffen?
Über das ‚Jenseits‘ müssen wir uns noch einmal im Diesseits aussprechen. Ich habe noch immer ein ruhiges Gewissen darüber. Die ‚Massenpsychologie‘ nehme ich wieder vor, wenn Anna sie zurückbringt. Gegenwärtig keine Arbeitskeime. Die fünf Stunden englischer Konversation täglich5 zehren alles Verfügbare auf.
Die Fortschritte in der Erholung Ihrer lieben Mirra werde ich mit Befriedigung verfolgen. In nächster Zeit höre ich gewiß viel von Ihnen beiden.
Seien Sie herzlich gegrüßt von Ihrem
Freud
a Nachträglich eingefügt, wie vielleicht auch das voranstehende „uns“.
b Wortstellung: wol mir; durch Korrekturzeichen berichtigt.
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S.
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