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S.
[Briefkopf Wien] 29. 4. 20.a
Liebste Freunde
Wenig anderen würde ich so ungern einen Wunsch vereiteln wie Ihnen! Ich habe es schon sehr bedauert, daß ich Sie, lieber Doktor, nicht zu Ostern in Wien sehen konnte, und nun locken mich noch so viele andere liebe Menschen zu Pfingsten nach Berlin.1
Ich bin aber ganz fest entschlossen, nicht hinzureisen,b d. h. auf alle Schönheit dieser Tage zu verzichten. Die Analyse der Motive fördert eine überwältigende Übermacht dagegen zutage.
Ich bin mitten in schwerer Arbeit und kann die neun Menschen nicht verlassen, mit denen ich große Schwierigkeiten hätte, wenn ich die zwei Pfingsttage zu einer Ferienwoche vervollständigte. Die Geldsumme, auf die ich zu verzichten hätte, würde mir im Sommer sehr fehlen. Vielleicht noch entscheidender ist die Tatsache, daß meine Stimmung die Teilnahme an Festzeiten nicht zuläßt und daß ich körperlich nicht frisch genug bin. Ich sehe voraus, wenn ich die Arbeit unterbreche, kommt nichts anderes als ein großes Ruhebedürfnis zum Vorschein, keinerlei Genußfähigkeit. Meine Kinder hoffe ich bald nachher zu sehen, und Sie beide werden wohl nicht heuer zuerst das Bedürfnis nach einem Zusammentreffen in den Ferien unterdrücken.
Somit grüße ich Sie beide herzlich und bitte Sie, mit Ansprüchen an einen alten Papa genügsam zu sein.
Ganz der Ihrige
Freud.
a Eilbrief; der zugehörige Briefumschlag adressiert an: Herrn u. Frau Dr. Max Eitingon.
b MS: Punkt statt Komma.
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S.
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