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[Briefkopf Wien] 19. XI. 24.a
Lieber Max!
Mit dem Termin dritte Dezemberwoche, den Sie für Ihren Besuch bestimmt haben, bin ich sehr einverstanden. Sie sollten Ferenczi nochmals mahnen, daß er sich die nötige Vollmacht1 rasch verschafft, damit unsere Generalversammlung die Sache erledigen kann.
Radó scheint es hier ganz angenehm gehabt zu haben. Seine Stimmung und Arbeitslust haben mir einen sehr guten Eindruck gemacht.b
Vor einer Stunde habe ich Rank verabschiedet. Er schrieb plötzlich, daß er schon am Freitag2 abreise, und verlangte, noch einmal zu kommen. Sie erinnern sich gewiß, wie schwer er es uns gemacht hat, überhaupt etwas über den Termin seiner beabsichtigten Reise zu erfahren. Nun, das heutige Gespräch hinterließ einen traurigen Eindruck. Er war sehr verlegen, sprach leise, wartete, bis er gefragt wurde, und ich fragte die längste Zeit nach ganz unpersönlichen Dingen, wartete ab, ob er sich zu irgendeiner Äußerung entschließen werde. Die Pausen wurden aber immer peinlicher, und dabei schien er sich nicht losreißen zu können. So brach ich denn endlich los und sagte: „Wann gedenken Sie wieder hier zu sein?“ – Vor Ostern. – „Also etwa sechs Monate. Wenn Sie nach dieser Zeit wiederkommen und ich noch da bin, so will ich Ihnen Gelegenheit geben, die Situation zwischen uns nochmals zu besprechen. Heute hätte es keinen Sinn. Bis dahin wird sie geklärt sein, und Sie werden sich manches überlegt haben können. Sie haben ein dichtes Dunkel über sich verbreitet, das läßt sich nicht über ein halbes Jahr fortsetzen. Ich habe vor einigen Tagen einen Brief von Brill bekommen, welcher die Vorgänge in der letzten Vereinssitzung schildert.3 Sie endigten damit, daß er mit allen bös wurde und die Sitzung verließ. Einer nach dem andern von den Leuten, die Sie analysiert haben, stand auf und erzählte als Resultat der Anregung, die er von Ihnen empfangen, der eine, daß man Träume nicht mehr zu deuten brauche, der andere, daß man die ganze Sexualität los sei, der dritte, wie schön es sei, daß man den Patienten nur zu unterbrechen und auf das Geburtstrauma hinzulenken habe. Das soll das sein, was die Leute von Ihnen gelernt haben.“ Er wehrte lächelnd ab und sagte: Ich kann doch nichts dafür, wenn die Leute mich benützen, um ihre Widerstände zum Vorschein zu bringen. Darauf nahm ich meine Rache. Ich sagte: „Das sind dieselben Personen, die Sie in Ihrem Brief gegen mich verteidigt haben, über die Sie geäußert, Sie sähen die Erfolge meiner Analyse und freuten sich, nicht selbst analysiert worden zu sein. Dieselben, von denen Sie sich als Erlöser haben feiern lassen.4 Nun hören wir, was die Erfolge Ihrer Analyse sind, und wenn sie so aussehen, so ist das Zusammentreffen mit den Verdächtigungen, die zuerst von Berlin ausgesprochen worden sind, doch sehr auffällig. Sie sagen, Sie sind mißverstanden worden. Nun, in sechs Monaten ist es Zeit, solche Mißverständnisse aufzuklären. Wenn Sie zurückkommen, werden beide Teile wissen, woran sie sind.“ Er warf noch ein: Warum hat Brill, mit dem ich ja selbst gesprochen habe, auf das geachtet, was die sagen? Warum hat er ihnen nicht vorgehalten, was er selbst von mir gehört hat? – Ich sagte: „Weil er wahrscheinlich auch nicht vorausgesetzt hat, daß Sie aufrichtig gegen ihn waren.“ Und nun ließ ich mich gehen. Ich sagte: „Es ist mir ja auch nicht leicht, Sie nach 15jähriger Arbeit und so freundschaftlichen Beziehungen so ziehen zu lassen. Aber das läßt sich nicht mehr ändern. Sie haben gegen mich geäußert, daß Ihr Bestreben, sich eine Existenz zu sichern, Sie nach Amerika geführt hat. Sie haben also wahrscheinlich angenommen, daß Ihre Existenz mit meinem Verschwinden gefährdet ist. Ich glaube, Sie hatten nicht recht. Die Patienten aus der Fremde wären weiterhin zu Ihnen wie zu meinem Erben gekommen. Aber nehmen wir an, es sei so. Dann hätten Sie mir das ehrlich auseinandersetzen können und wären mit meiner Billigung und der Verfügung über meinen ganzen Einfluß hingereist. Sie haben das nicht getan, Sie mußten die Erfindung dazugeben, daß ich Sie schlecht behandelt habe. Das macht Ihrem Gefühlsleben einerseits Ehre, denn es zeigt, daß Ihnen der Abschied nicht leicht geworden ist, Ihrer Gesundheit aber keine. Denn Sie mußten die Neurose zu Hilfe nehmen, um die Lösung zustande zu bringen.“ Er schwieg immer weiter sehr verlegen und brachte nur heraus: „Ich danke Ihnen, daß Sie mir diese Gelegenheit zur Aussprache noch bieten werden.“ Ich schloß dann ab, indem ich sagte: „Die Referate über Ihr Buch können wir nicht mehr lange zurückhalten.5 Der wesentliche Gesichtspunkt derselben wird wohl sein, daß man über Ihre Theorie nicht eher urteilen kann, als bis Sie vollständigere Mitteilungen gemacht haben. Wenn Sie das tun, so wird sich wenigstens der eine Teil, das rein Objektive, in Ordnung bringen lassen. An dem andern ist nichts mehr zu ändern. Sie haben hier eine vorzügliche Stellung gehabt. Man hat Sie eigentlich allgemein geliebt und respektiert. Gerade der Neid, über den Sie sich so oft beklagt haben, war ja ein Zeichen davon. Nun gehen Sie als eine eigentlich gemiedene Persönlichkeit von hier weg. Ich weiß nicht, ob Sie das notwendig gehabt haben. Aber vous l’avez voulu!6“ Und dann stand ich auf und verabschiedete ihn mit den naheliegendsten Höflichkeiten. Er war so gedrückt und beschämt, daß er nicht einmal persönlichen Abschied von meiner Familie nehmen wollte. Er bat, ihnen seine Empfehlungen auszurichten. Ich trug ihm noch auf, seine Frau zu grüßen, die ich ja auch nicht so bald sehen würde. So hat diese Entrevue geendet, und ich muß sagen, die wesentliche Empfindung war: er hat mir schrecklich leid getan. Es war oft so, als wollte er irgend etwas Lösendes, Befreiendes herausbringen, aber der Trotz des schlimmen Kindes behielt jedesmal die Oberhand.
Als Antwort auf den Brief von Brill, den ich Ferenczi geschickt habe und der sehr bald in Ihren Händen sein wird, habe ich Brill eine wahrheitsgetreue Darstellung der Vorgänge hier und unsrer jetzigen Stellung zu Rank geschickt.7 Ich habe die strenge Weisung hinzugefügt, sich dieses Briefes nicht in indiskreter Weise zu bedienen, sondern abzuwarten, was Rank tut, und den Kampf gegen ihn, wenn notwendig, im eigenen Namen zu führen. Ich will natürlich nicht, daß Rank später erzählt, meine Rachsucht habe ihn nach Amerika verfolgt und seine Niederlassung verhindert. Es wird zwar nichts nützen; wenn er Mißerfolg hat, wird er doch wieder mich beschuldigen.
Von Brill aus finde ich einen leichten Übergang zu der von Abraham, jetzt auch von Ferenczi, ausgehenden Anregung, den Rundbriefverkehr wieder aufzunehmen.8 Ich bin sehr einverstanden damit und bitte Sie, Abraham zu sagen, daß ich mich durchaus aktiv beteiligen will. Nicht, wie er meinte, nur die von den drei Stellen, Berlin, Budapest, London, gewechselten Briefe gleichsam über die Achsel mitlesen. Ich hätte dann zumeist über Persönliches und über Verlagsangelegenheiten zu berichten. Nur müßten Sie damit einverstanden sein, daß Anna, die jetzt schon „verantwortlicher Redakteur“ geworden ist, auch Mitwisser der Komiteegeheimnisse wird.9 Denn ich könnte auf die neue Bequemlichkeit, mich ihrer Schreibmaschine zu bedienen, nicht leicht verzichten. Als ersten Beitrag von ihrer Seite bringe ich den Vorschlag, Brill in die Rundbriefkorrespondenz einzubeziehen, d. h. ihn zum Mitglied des Komitees zu machen.10 Ich möchte wissen, was Sie drei in Berlin dazu zu sagen haben.
Sie merken schon, lieber Max, daß dieser Brief nicht für Sie allein bestimmt ist. Sie sollen ihn auch Abraham und Sachs zeigen. Abraham hat mir in letzter Zeit wiederholt sehr anregend geschrieben und jedesmal hinzugefügt, der Brief bedürfe keiner Antwort. Ich schreibe ihm aber doch nächstens direkt.
Von meiner Prothese ist zu erzählen, daß sie heute zum erstenmal schmerzfrei und fast befriedigend ist. Es ist also beinahe erreicht. Hoffentlich lohnt sich die Geduld und Geschicklichkeit Pichlers für mich durch eine längere Zeit von relativem Behagen. Mein Allgemeinbefinden dankt für die freundliche Nachfrage. Es läßt sich gut an.
Mit vielen herzlichen Grüßen für Mirra, Abraham und Sachs, insoweit man zwei Analytiker in einem Atem mit ihr nennen darf, Sie selbst nicht zu vergessen,
Ihr Freud
a Masch.
b Absatz im Original durch per Hand eingefügten Gedankenstrich markiert.
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