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S.
Kein größeres Briefpapier!a1
[Briefkopf Wien] 27. 5. 20.
Lieber Herr Doktor
Anna ist gestern spät nachts zurückgekommen, ist heute sehr schläfrig, weil sie natürlich doch in der Schule war. Ich bin auch ganz unausgeschlafen, hatte neun Analysen; bitte also, Fehler, Unsinnigkeiten u. dgl.b nicht auf Rechnung der Altersverblödung zu setzen.
Langer Brief über alle in Betracht kommenden Punkte.
1. Fond. 5½% und absolute Sicherheit sind natürlich sehr verlockend, die Entfernung und Schwierigkeit der Verfügung stehen dagegen. Ihr Geheimnis nicht, denn wie angekündigt habe ich es bereits durchlöchert.2 Auch mein Sachverständiger3 hat mich heute im Stich gelassen, gewiß werde ich den Modus annehmen, zu dem Sie raten. Vielleicht trennt man einen kleineren Betrag bald ab, der leicht verfügbar gehalten wird. Gegen Kursverlust gibt es keine Sicherung. Dollars sind gestern von 195 auf 155 gesunken. Weitere Schwankungen scheinen unberechenbar. Der Verlag hat noch Geld für einige Zeit (aber kein Papier), der Fond besteht aus 118 K.
2. Sachs. Große Sorge. Wir können ihn nicht verlassen, aber was tun? Nach Wien kommen scheint er nicht zu wollen, hat der Lungengefahr wegen recht. Im englischen Verlag wäre er gut zu verwenden, aber können wir ihn erhalten? Unter 30.000 K kann er hier nicht leben. Der Verlag zahlt gegenwärtig an Gehältern
Rank - 48.000 K
Reik - 18.000 "
Frau Rank4 - 6.000 "
Anna - 6.000 "
_________
78.000 K
d. h. er zehrt sich in der Regie auf und muß beständige Zuschüsse aus dem (neuen) Fond bekommen. Die Erhaltung solcher Personen ist gewiß einer der Zwecke der Stiftung, aber doch nicht der einzige. Guter Rat also teuer, aber nicht minder teuer die gute Tat.
3. Anna soll, wenn sie ihrer Gesundheit wegen die Schule aufgegeben hat, beweglich bleiben, wenn möglich Teile des Winters im Süden zubringen. Das schließt regelmäßige Kleinarbeit für englischen Verlag eigentlich aus. Nepotismus soll man uns auch nicht vorwerfen dürfen.
4. Oliver hat sich riesig über die Erhaltung der Chance in Berlin gefreut. Man hat hier eifrig für ihn gesucht, aber es hat sichc nichts gefunden. Auch will er gar nicht hier bleiben, wohinter seine Abneigung gegen die Wiener Mädchen steckt. Ich schätze, daß seine Chance bei Hirsch nur in Ihrer Hartnäckigkeit besteht. Er tut mir leid, gedeiht bei diesen Bedingungen schlecht.
5. Schmideberg. Robert5 wird Ihnen über die Schwierigkeiten Ihres Vorschlags schreiben. Gedenken Sie, daß 4500 Ihnen schuldige Mark (2000 ich, 2500 Minna) hier effektiv bereit liegen, die Sie sofort für diese Adresse verwenden können!d Die Einkäufe in Ungarn sind eine durchsichtige Deckung.
6. Sommer. Ich bin beinahe entschlossen, die Arbeit bis zum letzten Juli fortzusetzen. Motiv: ich kann die fünf Fremden ausnützen, von denen vier (die Engländer) im Herbst nicht wieder da sein werden, und so in zwei Wochen mehr bei nur fünfstündiger Arbeit 60-70.000 K verdienen, was Teil des Sommers deckt. Der Erwerb im Herbst ist ja ganz unsicher. Die Wiener Praxis ist natürlich ganz unzulänglich. Den August bliebe ich in Gastein, und dann trennen uns nur wenige Tage vom Kongreß. Der notwendige Zwischenaufenthalt, wenn ich von Mitte Juli bis Mitte August nach Gastein gehe, ist ohnedies schwer zu finden.
7. Kongreß. Die Nachteile des Haag sehe ich so gut wie Sie und Abraham, aber alles tritt gegen die Chance zurück, für die englische Zeitschrift und Monograph Series den englischen Markt zu gewinnen und damit die Fortexistenz auch der deutschen Zeitschriften zu sichern. Der Verlag ist so kostspielig geworden, daß er durch keine Fondspende zu halten ist, nur durch Ausdehnung seiner Tätigkeit. Was die Gastlichkeit in Holland betrifft, muß man sich an Ophuijsen6 wenden und dankbar annehmen, was er leistet.
8. Poliklinik. Ich werde Frau Dr. Hug kommen lassen, um ihr Ihren Vorschlag mitzuteilen. Sie soll sich dann mit Ihnen selbst in Verbindung setzen. Außer ihr, die hier übrigens selbst psychoanalytische Praxis hat, kommt noch Dr. Bernfeld7 in Betracht, ein trefflicher Mensch, glänzender Lehrer, der aber dem Pathologischen ferner steht und gegenwärtig wegen Tbc auf langem Urlaub ist. Vielleicht kann er bis zum August oder September wieder leistungsfähig sein. Soll ich auch bei ihm anfragen? Einen ordentlichen Hilfsarzt für Sie8 habe ich derzeite auch hier nicht, werde natürlich daran denken.
Vor längerer Zeit haben wir, Rank und ich, eine Anzahl unserer Bücher der Poliklinik geschickt. Sind sie angekommen?
9. Groddeck.9 Bedaure zu hören, daß Sie ihn nicht mögen. Er ist ein Stück Phantast, aber ein origineller Kopf und besitzt die seltene Gabe eines guten Humors. Ich möchte ihn nicht vermissen. Seine Briefe sind prächtig. Gestehe, daß ich versprochen habe, einen köstlich tollen psychoanalytischen Roman, den er geschrieben und mir eingeschickt hat, durch unseren Verlag zum Druck zu befördern. Das Risiko trägt allerdings er, indem er 20.000 Mk zu den Druckkosten beiträgt. Soviel kostet nämlich jetzt ein Buch von 20 Bogen!
Genug von Geld, Geschäften und Sorgen! So sieht aber bei Licht besehen die Wissenschaft aus.
Ich korrigiere und vervollständige jetzt das ‚Jenseits‘, das des Lustprinzips nämlich, und befinde mich wieder in einer leistungsfähigen Phase. Fractus si illabatur orbis, impavidum ferient minae.10 Alles nur Stimmung, solange sie anhält.
Ich freue mich sehr auf meine Frau und die für Juni angekündigten Kinder.11 Für Hamburg hat sich leider nichts machen lassen.
Von Ihnen weiß ich, daß Sie jetzt eine von vielen Dingen erfüllte Zeit durchleben, und grüße Sie und Ihre liebe Frau herzlichst
Freud
a Im MS über dem Briefkopf. Der Brief umfaßt vier (kleinformatige) Blätter, von denen Freud das zweite und dritte numeriert hat. – Verschickt als Eilbrief.
b „u. dgl.“ nachträglich eingefügt.
c Die letzten beiden Worte nachträglich eingefügt.
d MS: .!
e MS: dz.
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