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S.
[Briefkopf Wien] 11. I. 1928.a
Lieber Max!
Ich beglückwünsche Sie zur Rückkehr nach Berlin, womit leider auch das Ende Ihrer Ferien verbunden ist. An Arbeit wird es Ihnen nicht fehlen. Hier das erste Stück.
Sie haben ja Pfisters Bericht über die Aktion Oberholzers1 erhalten. Ich habe ihm kurz geantwortet2 und möchte Ihnen meine Stellung zu der Sache andeuten. Oberholzer folgt offenbar zwei verschiedenen Motiven. Daraus ergeben sich auch zwei verschiedene Fragen. Die erste, ob an einem Orte zwei voneinander unabhängige Gruppen existieren können, die zweite, ob man eine Gruppe mit bloß „formaler“ Zugehörigkeit anerkennen kann. Die erste Frage hat gewiß nur das Präsidium zu entscheiden. Dahinter steht dann meine Ihnen wahrscheinlich bekannte Neigung, den Lösungsversuch von Ferenczi anzunehmen, der im Rahmen unserer Organisation sowohl ärztliche als auch Laiengruppen neben den gemischten Gruppen zulassen will.3 Aber ich glaube selbst nicht, daß man einen solchen Entscheid unabhängig von dem Urteil des Kongresses fällen darf. Zu diesem Problem führte der Widerstand Oberholzers gegen die Laienanalyse.
Zweite Frage: Es scheint mir überaus klar, daß man eine bloß formale Zugehörigkeit4 nicht zulassen darf. Dasselbe Vorrecht könnte jede andere Gruppe in Anspruch nehmen, und die Internationale Organisation würde selbst zu einer bloßen Formalität herabsinken. Oberholzer, den Sie ja kennen, ist ein eigensinniger Narr, auf den man gerne verzichten würde. Schade dabei um seine Frau.5 Ich würde sagen, ich traue es Ihrem persönlichen Einfluß zu, ihn umzustimmen, wenn ich nicht wüßte, daß er Einflüssen überhaupt unzugänglich ist. Wahrscheinlich fühlt er sich noch überdies als Schweizer verpflichtet, die historische Tat der Befreiung von österreichischer Oberherrschaft für seine Person zu wiederholen, bewegt sich also auf der von Jones den Amerikanern angedeuteten Linie. Dieses zweite Problem ist also der Ausgang von Oberholzers Opposition gegen unsere Persönlichkeiten.
Wie ich mir den Ausgang der ganzen Sache vorstelle? Ich weiß nicht. Vielleicht kann man annehmen, daß, wenn Sie der neuen Gruppe das Recht der „Formalität“ verweigern, ein Anteil der ärztlichen Mitglieder sich doch bedenken wird auszutreten und durch ihr Verbleiben die alte Gruppe existenzfähig erhalten wird. Man hört ja mit Befriedigung, daß Sarasin6 und vielleicht auch Kielholz7 sich ohnehin nicht angeschlossen haben. Möglicherweise folgen ihnen, wenn einmal die neue Gruppe außerhalb der Organisation erklärt wird, noch mehrere andere nach. Die Oberholzergesellschaft soll dann tun, was sie will, meinetwegen auch Psychoanalyse treiben. Sie wird aber gewiß die gewonnene Freiheit zu etlichen Seitensprüngen benützen.
Wir sehen alle der Mitteilung entgegen, wann wir Sie in Wien erwarten dürfen.
Ich grüße Sie herzlich.
Ihr Freud
a Masch.
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S.
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