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S.
[Briefkopf Wien] 14. Nov. 11
Lieber Herr Doktor
Ich hätte meine Zusage eingehalten, wenn die Pat. den Termin eingehalten hätte. Jetzt, um die Mitte November, bin ich so voll in Anspruch genommen, daß ich einen neuen Fall nicht annehmen kann. Eine Lücke wird sich vielleicht zu Weihnachten oder Neujahr ergeben, jedenfalls unbestimmbar wann, und die Pat., die auf die frei gewordene Zeit Anspruch machte, müßte unmittelbar erscheinen, was für Zwangskranke gewöhnlich Schwierigkeiten macht. Andere hier in Wien, z. B. Stekel,1 Federn,2 Sadger,3 sind gewiß noch imstande, sie zu übernehmen.
Wenn der Mann der Pat. nicht sehr reich ist, möchte ich überhaupt von dem Versuch in Wien abraten. Fälle wie der von Ihnen beschriebene verändern sich erfahrungsgemäß nur sehr langsam in der Analyse und verlangen lange Behandlung. Die Unterbringung hat große Schwierigkeiten, da die Patienten allein mit sich nichts anzufangen wissen. Ein psychoanalytisches Sanatorium haben wir hier nicht. Das Zweckmäßigste schiene mir daher, sie zu Maeder (Bircher-Benner)4 zu bringen, wenn dort noch Platz ist. Sie sehen, daß wir nach Vermehrung der psychoanalytischen Sanatorien ein dringendes Bedürfnis haben. Sie sollten eines noch gründen oder übernehmen und einrichten und mehrere Kollegen bei sich aufnehmen.
Es tut mir leid zu hören, daß Sie so langsam aus dem „Provisorium“ herauskommen wollen. Eilen Sie sich, das Leben vergeht. Ich bin sehr gerne bereit, die besten Nachrichten von Ihnen zu hören, und hoffe, daß ich der erste sein werde, dem Sie sie anvertrauen.
Mit herzlichem Gruß
Ihr Freud
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S.
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