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[Briefkopf Wien] 13. Dez. 20.a
Lieber Max
Ernst soll Mittwoch reisen1 und diesen Brief für Sie mitnehmen, von dem ich auch die Absolution für Nichtbeantwortung des letzten erwarte. Ich habe nun auf soviel schriftliche und mündliche Nachrichten von Ihnen zu reagieren, daß ich es gewiß nur unvollkommen tun werde, die richtige Strafe für den Aufschub.
Zunächst: ich bin nicht unglücklich darüber, daß Sie anstatt nach Amerika nach Meran gehen. Den Beamten, der es Ihnen verweigert hat, wollen wir – Ihre Frau ist gewiß auch dabei – unter die Wohltäter wider Willen aufnehmen. Ich habe noch immer Sorge, es könnte sich noch „günstig“ wenden. Also lieber doch nicht. Amerika ist schrecklich weit, in Meran ist man für alles erreichbar. Ein reiner Genuß ist weder die Reise noch der Aufenthalt in New York, zumal um diese Jahreszeit. Dann weiß ich, daß Sie sich in den letzten Monaten in mehr als erträglichem Maß geplagt und geschunden haben, und freue mich herzlich darüber, daß Ihnen Sonne und Erholung bevorstehen.
(Über Amerika ärgere ich mich jetzt jeden zweiten Tag.) 2
Die Wendung in Mirras Befinden, von der auch Anna berichtet, ist sehr willkommen. Nach meinem Urteil aus der Ferne ist die organische Affektion immer zurückgestanden und die Wiederkehr einer Depression, ehe sie Sie gekannt hat, im Vordergrund. Die Auffrischung wird ungleich größere Fortschritte machen, wenn Sie in Meran mit ihr sind, als wenn sie in anderer Gesellschaft dort bliebe.
Eine andere erfreuliche Nachricht ist, daß Sie im Mai nach Wienb kommen wollen. Wollen Sie hier mit uns allein sein, oder sollen wir die noch schwebende Komiteezusammenkunft in den Termin hineinverlegen?3 In jedem Fall feiern wir hier den Geburtstag von – Mirra.4
Anna hat offenbar eine sehr schöne Zeit in Berlin gehabt. Ich fürchte, sie war etwas enttäuscht, in unsere bleierne Alltagsstimmung zu geraten. Aber sie soll sich jetzt, wenn Ernst und Lux abgereist sind, die zwei frei gewordenen „Bubenzimmer“5 als selbständiges Königreich einrichten und so wieder Geschmack am Zuhause-Sein finden. Ernst ist ganz willig, ein Schweizer Sanatorium zur endlichen Heilung seines Lungenkatarrhs aufzusuchen, er ist klar und heiter, die liebe Kleine recht versorgt.6 Es ist natürlich nicht sehr angenehm, so bald, nachdem man in eine reiche Familie geheiratet hat, eine kostspielige Auslandskur in Anspruch zu nehmen. Ich hoffe nur, Brasch[s]7 sind selbst zu vornehm, um etwas dahinter zu vermuten. Die Kurkosten fallen aber auch für sie sehr erheblich ins Gewicht.
Um mich nicht länger zurückzuschieben, mir ist es sonderbar ergangen. Zuerst war ich körperlich zu wohl, um Vergnügen an der Arbeit zu finden, aber das hielt nicht lange an, und seither wird derselbe Effekt auf dem Wege der Verdrossenheit und Ermüdung erreicht. Ein ätiologischer Faktor liegt klar zutage, der oberflächlichste: Die sechs Stunden täglicher Arbeit mit Engländern8 nehmen meine Energie doch sehr in Anspruch; die Anstrengung, die mundfaulen Leute zu hören, ist vielleicht bedeutsamer als die, sich so oft in einer fremden Sprache auszudrücken. Darum konnte ich mir das Lob der Vorbildlichkeit in der Korrespondenz diesmal nicht verdienen. Vom 21.-28. Nov. habe ich auch nicht einen Brief mehr am Abend schreiben können, bis endlich der Berg so hoch wurde, daß er abgetragen werden mußte. Jetzt gewöhne ich mich allmählich an die neue Aufgabe, bin aber ernst und schwerfällig gestimmt, in einer jener Schwankungen, die bei mir den sog. Depressionen entsprechen.
Sie werden den Zusammenhang nicht verkennen, wenn ich von Oliver fortsetze und damit beginne, Ihnen mit ganz besonderem Nachdruck für Ihr Interesse an ihm zu danken. Ich hörte von Anna, was Sie über ihn denken, und es stimmt mit meiner eigenen Meinung voll überein. Aber die Objektivität fällt mir diesmal besonders schwer, denn er war lange Zeit mein Stolz und meine geheime Hoffnung, bis er dann meine größte Sorge geworden ist, als seine anal-masochistische Organisation deutlich hervortrat und später die Versuchec mißlangen, ihm eine genitale Funktion zu eröffnen. Die Art, wie Sie sein Schicksal zu beugen versucht haben und weiterhin versuchen, ist wohl das Beste, was man für ihn tun kann. Ich leide aber sehr unter dem Gefühl der Hilflosigkeit.
Auf Ihre Mitteilungen über ‚Jenseits‘ und ‚Massenpsychologie‘ bin ich nun vorbereitet. Vielleicht gibt Ihnen geraded Meran die erwünschte Muße, in der die Arbeit zur Erholung wird. Auch sonst keimt allerlei bei mir, aber es trägt den Stempel der Zeit, es ist kritisch und zerstörend gegen mein eigenes Werk, nichts davon übrigens über die ersten Ansätze hinausgekommen. Das Alter wollen wir in der Ätiologie auch nicht vergessen.
Nehmen Sie es also nicht übel, wenn ich Sie durch dieses Schreiben nicht aufheitere. Es ist Sache des Jüngeren, von dem Schatz seiner Stimmung abzugeben. Auf welchem Wege hat sich nur die Libido des Alternden verbraucht, so daß die destruktiven Kräfte ungehemmt an der Erfüllung der Lebensaufgabe arbeiten können? Oder wird sie einfach nicht mehr nachgeliefert, liegt es an der Produktion?
Es begrüßt Sie und Mirra herzlichst zu Ihrer Reise
Freud
a Der zugehörige Briefumschlag trägt die Aufschrift: Herrn Dr. Max Eitingon [ohne Adresse und Briefmarke].
b Wortstellung: Wien nach Mai; durch Korrekturzeichen berichtigt.
c Gestrichen: verl.
d Gestrichen: G.
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Berggasse 19
Wien 1090
Austria
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