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S.
[Briefkopf Wien] 5. Okt. 1930
Lieber Max
Ich kann diesmal nicht alle Ihre Wünsche erfüllen, z. B. nicht den nach meinem vollkommenen Wohlbefinden. Ich habe eine besonders und hartnäckig schlechte Zeit. Mein Herz will nicht regelmäßig arbeiten, mein Magen sträubt sich gegen seine Funktionen, die Prothese erweist sich als schlecht, aber wahrscheinlich eher die Gewebe, denen sie anliegt. Ich bin sehr müde und unbehaglich. Von diesen Beschwerden hat sich bisher nur die Magenstörung der Therapie zugänglich gezeigt, es soll sich um eine senile Fissur oder Erosion der Schleimhaut handeln. Pichler, bei dem ich vor einigen Tagen war, hat sein Mißfallen an einer Partie der Narbe geäußert und will dies Stückchen am nächsten Freitag ausschneiden,1 was einige Tage Berufsstörung mit sich bringen wird.
Unter diesen unfreundlichen Zuständen habe ich mich nicht entschließen können, Prof. Orliks Besuch anzunehmen. Es ist keine Zeit, sein Gesicht verewigen zu lassen, außerdem meine ich, daß die Schmutzersche Radierung nicht zu übertreffen ist. Das „letzte Gesicht“ habe ich Max Pollak in Wien zugesagt.2
Die guten Nachrichten Ihrer zwei Telegramme aus Dresden haben mich gefreut, aber als ich antworten wollte, fehlte mir die Adresse. Die so ungünstige Zeit, in die diese Telegramme fielen, erleichterte mir das apathische Verhalten. Sie glauben wahrscheinlich nicht, wieviel Interesse man abzieht, wenn man sich wirklich krank fühlt.
Ihre Dresdener Ansprache hat mich dann doch aufgeweckt. Es ist schade, daß Sie sich so selten äußern. Nur, wie es mir erscheint, daß Sie eine gewisse Indirektheit übersteigern.
Der Goethepreis liegt heute schon Jahrzehnte hinter mir, er hat keine Veränderung hinterlassen, die Verwunderung über die Prophetie in den Erkrankungsnachrichten, mit denen sich der verärgerte Zeitgeist entschädigte, ist aber nicht von mir gewichen.
Ich hoffe, Sie haben alle Nachsicht mit der Krankenstimmung, die sich in diesem Brief geäußert, und erhalten sich selbst jung und stark.
Mit herzlichem Gruß für Sie und Mirra
Ihr Freud
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S.
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