• S.

    [Briefkopf Wien] 39 Elsworthy Road

    London NW 3 [7. Juni 1938]a

    Lieber Freund

    Ich habe Ihnen in den letzten Wochen wenig Nachrichten gegeben; dafür schreibe ich Ihnen heute den ersten Brief aus dem neuen Hause, noch ehe ich neues Briefpapier bekommen habe.

    Es ist noch alles traumhaft unwirklich. Es könnte ein herrlicher Wunschtraum sein, wenn wir nicht Minna schwer krank, hoch fiebernd hier angetroffen hätten.1 Der Ausgang ist noch immer unsicher. Sie wissen, wir sind nicht alle gleichzeitig ausgereist. Dorothy die erste, Minna am 5/5, Martin am 14/5, Math2 und Robert am 24/5, wir übrigen erst Samstag vor Pfingsten, also 3/6,3 Paula4 mit uns, Lün wenigstens bis Dover, wo sie von einem freundlichen Vet.5 in Quarantaine genommen wurde. Mein Hausarzt Dr. Schur sollte uns mit seiner Familie begleiten, aber er war so ungeschickt, in elfter Stunde einer Blinddarmoperation bedürftig zu werden, so daß wir uns mit der Garantie der netten Kinderärztin Dr. Stroß,6 die Anna mitnimmt, begnügen mußten. Sie hat mich sehr brav behütet, denn in der Tat haben die Schwierigkeiten der Reise sich bei mir in schmerzhafter Herzmüdigkeit ausgewirkt, wogegen ich reichlich Nitroglycerin und Strychnin genossen habe. Die lästige Revision in Kehl7 wurde uns durch ein Wunder erspart. Nach der Rheinbrücke – waren wir frei! Der Empfang in Parisb – Gare de l’Est – war herzlich, etwas lärmend mit Journalisten und Photographen. Von 10h a. m. bis 10 p. m. waren wir bei Marie im Hause. Sie hat sich an Zärtlichkeit und Rücksichten übertroffen, hat uns einen Teil unseres Vermögens – zurückgegeben8 und mich nicht ohne neue griechische Terrakotten weiterreisen lassen. Den Kanal überquerten wir im Ferryboat, das Meer sahen wir erst im Hafen von Dover. Nunc waren wir bald in Victoria Station und wurden von den Immigration Officers mit Auszeichnung durchgelassen. Unsere Aufnahme in London ist eine sehr liebenswürdige. Die ernsthaften Zeitungen bringen kurze, freundliche Begrüßungen. Allerlei Getue wird gewiß noch folgen.

    Um zurückzugreifen, Ernst und mein Neffe Harry9 waren schon in Paris, uns zu empfangen, der Botschafter Bullitt hat die Gelegenheit nicht versäumt, sich mit Marie und mir photographieren zu lassen.10 In Victoria war Jones anwesend, der uns dann durch das schöne London in unser neues Haus brachte 39 Elsworthy Road. Wenn Sie London kennen, es ist ganz im Norden der Stadt, nach dem Ende von Regent’s Park am Fuß von Primrosed Hill, hat von meinem Fenster aus kein Gegenüber, sondern nur die Aussicht ins Grüne, das mit einem reizenden, kleinen, von Bäumen umschlossenen Garten anfängt. Es ist also so, als ob wir in Grinzing lebten, wo jetzt der „Gauleiter[“] Bürckel uns gegenüber eingezogen ist. Das Haus ist vornehm eingerichtet. Die oberen Räume, die ich ohne Tragsessel nicht betreten kann, sollen besonders schön sein, parterre ist uns – Martha und mir – Schlafzimmer, Arbeitszimmer und Speisezimmer eingerichtet worden, immer noch schön und bequem genug. Natürlich ist Ernst für Wahl und Einrichtung der Wohnung verantwortlich. Aber [wir] können nicht länger als einige Monate in ihr bleiben und müssen für die Zeit11, bise unsere eigenen Möbel kommen – vielleicht in einigen Monaten –, ein anderes, leeres Haus mieten.

    Es wird kaum Zufall sein, daß ich bisher so sachlich geblieben bin. Die Affektlage dieser Tage ist schwer zu fassen, kaum zu beschreiben. Das Triumphgefühl der Befreiung vermengt sich zu stark mit der Trauerarbeitf, denn man hat das Gefängnis, aus dem man entlassen wurde, immer noch sehr geliebt, in das Entzücken über die neue Umgebung, das einen zum Ausruf „Heil Heitler[“]12 drängen möchte, mengt sich störend das Unbehagen über kleine Eigentümlichkeiten der fremden Umwelt ein, die frohen Erwartungen eines neuen Lebens werden durch die Unsicherheit gehemmt, wie lange ein müdes Herz nochg Arbeit wird leisten wollen; unter dem Eindruck der Krankheith im Stock über mir – ich habe sie13 noch nicht sehen dürfen [–] wechselt der Herzschmerz ab mit deutlicher Depression. Aber [die] Kinder, die echten sowohl wie die angenommen[en], benehmen sich reizend, Math zeigt sich hier so tüchtig wie Anna in Wien, Ernst ist wirklich, wie man ihn genannt hat, a tower of strength, Lux und die Kinder seiner würdig, die Männer Martin und Robert, die unter dem Nazidruck den Kopf verloren hatten, tragen ihn hier wieder hoch. Soll ich der einzige sein, der nicht mitgeht, der die Seinigen enttäuscht? Und meine Frau ist gesund und siegreich geblieben.

    Wir sind mit einem Schlag populär in London geworden. Der bankmanager sagt: I know all about you; der Chauffeur, der Anna herführt, bemerkt: Oh, it’s Dr. Frud’s13 place. Wir ersticken in Blumen. Jetzt dürfen Sie auch wieder schreiben, und zwar was Sie wollen. Briefe werden nicht geöffnet.

    Herzlich für Sie und Mirra

    Ihr Freud

     

    a Datum des Poststempels auf dem zugehörigen Briefumschlag. Der Umschlag trägt die gedruckte Absenderangabe: Wien, IX., Berggasse 19; darüber, vermutlich von Freuds Hand: vier Fragezeichen. Die gedruckte Adresse des Briefkopfes ist durch die Angabe „London NW3“ überschrieben.

    b Gestrichen: war.

    c MS: Und.

    d MS: Primsome.

    e MS: was.

    f MS: Trauerbeit.

    g Korrigiert.

    h Gestrichen: ub (für: üb).