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    [Briefkopf Wien] XVIII 3. 8. 1931

    Lieber Max

    Ich bezweifle nicht, daß Sie mit der Verschiebung des Kongresses die richtige Entscheidung getroffen haben, und ich fürchte, die Folge wird zeigen, wie sehr Sie damit recht hatten.

    Wenn wir einen guten Anlaß haben, die Veröffentlichung des Buches der Melanie Klein aufzuschieben und endlich von uns zu weisen, sollten wir ihn wirklich nützen. Ich bin durch die Rücksicht auf Anna in der Parteinahme gehemmt, aber in den letzten Studien über die Entwicklung des weiblichen Kindes1 habe ich doch die Überzeugung erwerben müssen, daß die Resultate der Kleinschen Spieltechnik irreführend und ihre Folgerungen unrichtig sind. Wir brauchen uns dafür wirklich nicht einzusetzen.

    Storfer hatte ich nur in zwei Zeilen geschrieben, ich meinte, daß er mit der Verweigerung des Honorars für Radó seine Befugnisse überschritten. Das war als unappellables Urteil gemeint, hatte aber die Aufrollung des ganzen Prozesses in jenem Memorandum zur Folge. Da somit mein Eingreifen mißglückt ist, antworte ich nicht weiter und bleibe dabei stehen, daß mit ihm nichts anzufangen ist. Auch die nächsten neun Monate bis zu seinem Austritt werden vergehen.

    Pötzleinsdorf bewährt sich immer mehr, wir verbringen hier den behaglichsten Sommer seit langen Jahren. Wenn man nur wohler wäre, gäbe es ein in dieser Zeit kaum erlaubtes Idyll. Ich werde von heute ab nur drei Stunden arbeiten (Dorothy, Prinzessin und Irma Putnam,2 letztere eine erstklassige Person, aus der ich gern etwas für die Analyse Bedeutsames machen möchte). Das füllt den Nachmittag von 4-7h, am Vormittag will ich schreiben, wenn eine gewisse, später zu erwähnende passive Betätigung überstanden ist.

    In einem Seitengang macht jemand eine Büste von mir, ein Bildhauer, Oscar Neumann aus Brüssel,3 seinem Gesicht nach ein slawischer Ostjude, Chazare oder Kalmück u. dgl. Federn hat ihn mir aufgedrängt, der sonst eine höchst unglückliche Hand im Aufspüren von noch unerkannten Genies hat. Diesmal ist aber etwas daran oder eher viel. Der Kopf, den der hagere, ziegenbärtige Künstler aus dem Dreck – wie der liebe Gott – geformt hat, ist sehr gut und einem Eindruck von mir überraschend ähnlich. Wie er das Werk verwerten will, verschweigt er; ich habe es ja nicht bei ihm bestellt.

    Zur Freude in Pötzleinsdorf tragen – lachen Sie nicht! – unsere Hunde sehr viel bei, die ihre Freiheit im Garten intensiv genießen. Meine Jofi ist ein entzückendes Wesen, eine Erholung gegen die meisten menschlichen Besucher, ihr schwarzer Sohn ein erfreulicher Schelm. Ich mag mir den Sommer ohne diese Tiere nicht mehr vorstellen.

    Die Ankündigung einer neuen Zigarrensendung ist mir sehr willkommen. Unter dem Einfluß von Stimmungen, die Sie leicht erraten und auf die ich noch eingehen werde, rauche ich reichlich und unbeschwert von Skrupeln. Dabei muß ich doch erinnern, daß ich Ihnen erst einmal M 100 für die ersten Vorräte gezahlt habe, und darf die Neugierde äußern, wieviel ich Ihnen jetzt schulde.

    Und nun die lang aufgeschobene Neuigkeit: In Paris findet gegenwärtig ein Weltkongreß der Zahnärzte statt. Ruth, deren unermüdliche und unwiderstehliche Energie Sie kennen, hat in Erfahrung gebracht, daß auch der Professor von Harvard, ein Armenier namens Kazanjiana,4 der als die höchste Autorität in Prothesenarbeit gilt, sich zum Zweck des Kongresses in Europa befindet. Sie hat ihn in London aufgespürt, telephonisch mit ihm verhandelt und ihn trotz meines Sträubens hieher gebracht. Er ist ein sehr vertrauenerweckender, scheuer Mann mit einem Lächeln wie Charlie Chaplin. Und jetzt hat sich das Unglaubliche ereignet! In 1½ Tagen (bFreitag und Samstag – heute ist Montag) hat der Zauberer eine provisorische Prothese fertig gebracht, die nur halb so groß und schwer ist wie meine früheren, mit der ich kauen, reden und rauchen kann mindestens ebenso gut wie bisher. Er meint, daß er sie bis zum vollen Behagen herrichten kann, wenn er einige Wochen an ihr arbeitet. Er verlangt für die Arbeit nichts als die Entschädigung für seinen Entgang und seine Spesen, was etwa $ 6000 ausmachen würde. Er hat keine sichere Zusage gemacht, daß er nach dem Kongreß, etwa am 10. d. M., zurückkommen wird. Es scheint, daß seine Frau, mit der er gereist ist, ihm Schwierigkeiten macht. Auf meiner Seite ist nun das Dilemma. $ 6000 ist für mich eine große Summe, für die in diesen Zeiten andere Verwendungen naheliegen. Daß ich sie von anderer Seite annehme, ist bei meinem relativen Reichtum natürlich ausgeschlossen. Gewiß hätte ich gern eine gute Prothese und damit das Ende meiner langjährigen Quälerei. Aber mehr als eine Aussicht ist es auch diesmal nicht, keine Sicherheit, alle bisherigen Bemühungen und Versprechungen sind doch nur in Enttäuschung ausgelaufen. Nehmen wir aber eine gewisse Besserung diesmal als wahrscheinlich an, oder selbst einen vollen Erfolg. Lohnt es sich, einen solchen Betrag für meine Erleichterung auszugeben, wenn ich sie wahrscheinlich nur kurze Zeit genießen werde? Ich rechne nicht damit, noch lange zu leben, vielleicht nur einige Monate. Die Summe der Organstörungen, die mich heimsuchen, ist doch recht groß, die Anzahl der Erkrankungsmöglichkeiten, die in meiner Mundhöhle bereit liegen, nicht zu vernachlässigen. Mir scheint, ich sollte die von dem Armenier angebotene Hilfeleistung abweisen, weil sie zu spät kommt. Man wird mir von allen Seiten einwerfen, das sei Unrecht, das Geld, da es doch da ist, spiele keine Rolle. Aber das ist mit Rücksicht auf die geringe Lebenschance doch nicht richtig.

    Vielleicht löst sich der Konflikt nicht bei mir, sondern bei ihm, indem er es ablehnt, wiederzukommen. In dem Falle bin ich darauf angewiesen, daß mein braver, aber natürlich nicht sehr leistungsfähiger Weinmann sich einen seiner Winke zunutze macht.

    Ich werde Sie wissen lassen, wie es ausgeht.

    Mit herzlichen Grüßen für Sie und Mirra

    Ihr Freud

     

    a MS: Kazanjean.

    b MS: Gedankenstrich statt Klammer.