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S.
[Briefkopf Wien] 17. X. 26
Lieber Max
Ich habe Storfer die $ 300 in Schilling gegeben und ihm nichts von der Budapester Spende gesagt.
Schönen Dank für Ihr Schreiben an Moll. Er wird sich gewiß ärgern, aber kaum bekanntmachen.
Ihr Angebot, mir Material für die Dostoj[ewski]-Arbeit zu geben, hat mich sehr gerührt und nötigt mich, Ihnen über ihren Stand Auskunft zu geben.
Die reine Wahrheit ist, daß die Arbeit stockt, sie wird wahrscheinlich überhaupt nicht weiterkommen. Der Hauptgrund ist der evidente Nachlaß meines Bedürfnisses oder meiner Fähigkeit zur Arbeit. Auf dem Semmering war ich ganz frei und froh, mich mit etwas beschäftigen zu können. Hier bin ich nach fünf Analysen und der Erledigung meiner Korrespondenz saturiert oder, wenn Sie wollen, müde und habe keinen Antrieb mehr, etwas Ernsthaftes zu unternehmen. Das bedeutet natürlich eine große Veränderung bei mir; ob es so bleiben wird, weiß ich nicht; derzeit ist es so.
Ein Nebenmotiv hat sich ergeben, als ich über D[ostojewski] zu lesen begann und mit der Schrift der Neufeld1 den Anfang machte. Ich erinnere mich an Ihr Urteil darüber, es scheint mir zu hart. Der Essay ist gewiß schülerhaft gedacht und ausgeführt und in Einzelheiten angreifbar. Aber das Wesentliche, was ich in ‚D[ostojewski] und die Vatertötung‘ sagen wollte, ist doch darin gesagt. Was ich neu hinzugeben könnte, wäre in zehn Zeilen erledigt. So wenig lohnt nicht die Mühe der Vorbereitungen, die ich zu machen hätte, bloß um zu einer vollen Bestätigung dieses Schriftchens zu kommen. Ich werde also wahrscheinlich nichts über dies D[ostojewski]-Thema schreiben. Die Arbeit der Tatj. Rosenthal habe ich übrigens im ‚Zentralblatt‘ vergeblich gesucht.2
Ich meine, Sie sollen sich über mein Zurückweichen nicht kränken, sondern sich an die Idee gewöhnen, daß die Zeit meiner Produktivität vorüber ist, wenigstens der kontinuierlichen, die noch durch meine drei letzten Krankheitsjahre angehalten hat.
Wenn es mir nicht schlechter geht – November pflegt eine ungünstige Zeit für mich zu sein –, will ich wirklich in der Weihnachtspause auf einige Tage nach Berlin reisen.3 Das steht mir nun wie ein großes Abenteuer bevor! Früher einmal4 pflegte ich mehrmals Samstag abends im Schlafwagen hinzufahren und war Montag vormittag wieder zurück. Der Weg war damals kürzer, aber auch manches sonst anders als jetzt. Außer Kindern und Enkel[n] will ich aber niemand dort sehen, Sie rechne ich zu den ersteren. Glauben Sie mir nur, ich behage mir gar nicht bei diesen Altersbeschränkungen. Sic transit ...5 Oberländer6 hat einmal eine Bilderreihe gezeichnet: Der Löwe aus Vanille-Eis.
Mit herzlichen Grüßen für Sie und Mirra
Ihr Freud
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S.
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