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    [Briefkopf Wien] 21. 7. 1932

    Lieber Max

    Wenn ich Ihre Erkundigung nach den neuen Vorlesungen so lange ohne Antwort gelassen, werden Sie gewiß zur Erklärung an ein affektives Moment gedacht haben, und ich bestätige Ihnen heute, nicht mit Unrecht. Daß Sie diesmal nicht wie sonst jedes Stückchen Manuskript frisch in die Hand bekommen, bedaure ich nämlich nura wegen der Begründung auf Ihrer Seite, nicht weil Ihnen damit etwas entgeht. Die Wahrheit ist, es ist keine erfreuliche Arbeit; der Motivwechsel – anstelle eines inneren Antriebs das Bedürfnis, dem Verlag zu Hilfe zu kommen – tut ihr offenbar nicht gut. Sie beschäftigt mich zuviel und erfreut mich gar nicht. Dies Wiederkäuen, Herstellen verdünnterer Aufgüsse, ist so garb nicht nach meinem Geschmack. Es kommen Tage, an denen ich meine reichliche Muße überhaupt nicht für die Arbeit ausnützen kann; heute ist auch ein solcher, und darum kann ich Ihnen schreiben. Ich bin sonst von allen anderen Geschäften abgezogen.

    Also: vier Vorlesungen sind fertig, eine davon nur im Entwurf, an einer fünften plage ich mich eben.1 Die unfertige ist betitelt: „Weltanschauungen“, eine Zusammenziehung von ‚Illusion‘ und ‚Unbehagen‘. Die drei in endgiltiger Fassung heißen „Revision der Traumlehre“ (nur Wiederholung), „Traum und Okkultes“ (eine Empfehlung der Telepathie mit dem Material, das ich in jenen goldenen Zeiten des Komitees auf der Harzreise vorgetragen)2 und „Zerlegung der Persönlichkeit“ (‚Massenpsychologie‘ plusc ‚Ich und Es‘). Die fünfte, in der ich jetzt stocke, ist „Angst und Triebleben“ (‚Hemmung, Symptom und Angst‘ plusc Einführung des Todestriebs aus ‚Jenseits‘). Was noch kommen soll, ist vorläufig unbestimmt. Vielleicht: „Einige Anwendungen“, „Die Weiblichkeit“ u. dgl. Mehr als acht Vorlesungen werden es nicht sein. Neues und Originelles wird nicht drin stehen. Der Darstellung wird man die Ungunst der Entstehungsgeschichte anmerken. –––

    Gestern war Alexander mit dem Ehepaar Stern bei mir. Sympathische junge Leute, er ein offenbarer Schwärmer. Wieweit sie alle drei durch ihr Amerikanertum geschädigt sind, ließ sich in so kurzer Zeit nicht feststellen. Zu Alexander möchte ich gern unbeirrtes Zutrauen haben; es gelingt mir nicht ganz. Seine echte oder vorgespiegelte Einfalt macht ihn mir fremd. Oder mein Mißtrauen gegen Amerika ist nicht zu besiegen.

    Sonst fehlt es auch bei uns nicht an dem zur Beschwerung erforderlichen Maß von Sorge und Elend. Mathilde kränkelt mehr als je, und es ist nichts dabei zu machen. Meine kleine Eva3 ist nach Mallnitz (Kärnten) mit einem scheinbar sehr leichten Scharlach gekommen, aber ich fürchte, man ist nicht genug vorsichtig mit ihr. Das Heer meiner kleinen Beschwerden wächst jede Woche um einen neuen Beitrag; angeblich geht es mir dabei sehr gut.

    Ich wünsche dasselbe von Ihnen und Mirra ohne Glosse zu hören.

    Herzlich Ihr

    Freud

     

    a Wie nachträglich am Anfang der Zeile eingefügt.

    b Im MS zusammen: sogar.

    c Im MS Pluszeichen.