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    [Briefkopf Wien] 10. 5. 12

    Lieber Herr Doktor

    Es wäre nicht aufrichtig abzuleugnen, daß ich mich über den indiskreten Gebrauch Ihrer Kenntnis von meinen Generalien herzlich gefreut habe. Die Zuneigung einer Schar von tapferen und einsichtsvollen jungen Männern ist doch der beste Gewinn, den mir die psychoanalytische Arbeit gebracht hat.

    Unsere Pat., über die ich jetzt fragmentarisch schreiben will, ist doch weiter, als ich sie geschätzt. Sie hat jetzt das Burgtheater und die Stefanskirche besucht, als ob es nichts für sie wäre. Ganz verstehe ich den Erfolg nicht, er ist mir noch immer unheimlich. Aber ich gestehe, das Zwangssystem ist in voller Abbröckelung und kann bis zu ihrer Abreise von Wien erledigt sein. Die Angst vor dem Kern der unbewußten Regungen ist unversehrt erhalten. Sie muß sich da einen sicheren Widerstand vorgelegt haben; ich möchte raten, den des Unglaubens, aber sie ist eigentlich keine Zweiflerin.a

    Vielleicht hängt der gute Verlauf mit der Erhaltung der Empfindlichkeit im Sexualverkehr zusammen, woran ich ja auch nicht glauben wollte;b vielleicht hat mein rasches Erraten des einfachen infantilen Sachverhaltes etwas dazu getan. Ihr Fall läuft so: Frühe Beobachtung des elterlichen Coitus, sehr wahrscheinlich Masturbation von der Mutter entdeckt und durch die Androhung des Sterbens rasch unterdrückt, mit 3¼ Jahren frühinfantile Zärtlichkeiten des Vaters. Übertragung von der Mutter auf den Mann infolge seiner sexuellen Bedenken in der Brautzeit, Verstärkung durch Langeweile und Kinderlosigkeit, die als Strafe für die Todeswünsche gegen die Mutter hingenommen wird. Es wäre natürlich noch ungeheuer viel über den Fall zu sagen, er ist aber auch noch unfertig.

    Ich hoffe, daß, wenn Sie die Behandlung fortsetzen und von der Besetzung der Küstenorte aus die Eroberung des Binnenlandes durchführen (Tripolis!1), ein voller Erfolg nicht ausgeschlossen ist.c

    Ich danke Ihnen und grüße Sie herzlich

    Ihr Freud

     

    a In diesem Absatz gibt es mehrere Farbstift-Markierungen, vermutlich von Eitingons Hand. Der Anfang ist durch Querstrich bezeichnet, das Wort „Kern“ unterstrichen, am Rand derselben Zeile ein Fragezeichen, bei „Sie muß sich da einen sicheren Widerstand ...“ ein Längsstrich (alles rot); ein anderer Strich (grün) bei den Zeilen („Aber ich gestehe ... Abbröckelung“).

    b Satzzeichen undeutlich.

    c Am Anfang des Absatzes über 2-3 Zeilen ein roter Strich am Rand (wie Note a).